Gutachtliche Entscheidungen

56 | Gutachtliche Entscheidungen Verkennen einer Vulvaneoplasie wegen fehlender Inspektion In den vergangenen Jahren ist es zu einer deutlichen Zunahme der prämalignen und malignen Erkran- kungen der Vulva gekommen. Bei den Präneoplasien wird zwischen den u-VIN-Veränderungen, die virus- assoziiert sind, und den d-VIN-Veränderungen unter- schieden, die HPV-negativ sind und typischerweise auf dem Boden chronischer vulvärer Erkrankungen entstehen. Bei den d-VIN-Veränderungen handelt es sich zumeist um unifokale Läsionen. Für die u-VIN-­ Veränderungen ist eine Multifokalität beziehungswei- se Multizentrizität charakteristisch. Als Virustypen kommen am häufigsten HPV 16 und 18 in Frage. Der Anstieg der VIN-Inzidenz ist bei Frauen unter 50 Jah- re besonders ausgeprägt [ 1 ]. Insofern handelt es sich bei den Präneoplasien und Neoplasien der Vulva nicht mehr um eine Erkrankung der älteren beziehungs­ weise der alten Frau. In den Leitlinien wird bei der Krebsvorsorge des weib- lichen Genitales obligatorisch eine Befundung der Vul- va und Vagina verlangt (vgl. Leitlinie zur Diagnostik, T herapie und Nachsorge des Vulvakarzinoms und seiner Vorstufen, AWMF - Registernummer 015/059). Werden Vulva und Vagina nicht in Augenschein genommen, so liegt ein Befunderhebungsfehler vor, vor allem wenn wiederholt vulväre Beschwerden beklagt und/oder eine Lokaltherapie verschrieben wurde. Da solche Kla- gen in der gynäkologischen Praxis häufig sind, muss die vorgenommene Inspektion zur Befunderhebung auch entsprechend dokumentiert werden (siehe Leit- linie a.a.O., Lang fassung S. 70), will sich der Arzt nicht einem Haftungsrisiko aussetzen. Dabei sind auffällige Veränderungen hinsichtlich ihrer Lokalisation, An- zahl und Verteilung, Größe, Begrenzung und Farbe zu beschreiben (siehe a. a.O.), was eine Dokumentation in der Krankenakte beziehungsweise der Patientenkartei bedeutet. Diese Dokumentationspflicht ist keine bloße Empfehlung, die je nach Praxisübung mehr oder we- niger genau zu befolgen sein könnte, deren praktische Umsetzung also im Belieben des Untersuchers stünde [2]. Der Gesetzgeber hat den Behandelnden in § 630f Abs. 1 BGB verpflichtet, zum Zwecke der Dokumentation im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen. Darin hat er sämtliche, aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesent- lichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzu- zeichnen, insbesondere Untersuchungen, Unter- suchungsergebnisse und Befunde (siehe a. a.O., Abs. 2). Welche Maßnahmen im vorliegenden Fall durchzu- führen waren, ergibt sich aus der zitierten Leitlinie. Es hätte demnach in der Patientenakte unter ande- rem aufgezeichnet werden müssen, dass die Vulva in ihrer Gesamtheit (Mons Pubis, Schamlippen, Klitoris, Scheidenvorhof) klinisch inspiziert wurde, und zwar auch im Wiederholungsfalle. Grundsätzlich genügt eine Aufzeichnung in Stichworten, durch die Irrtümer beim nachbehandelnden Arzt vermieden werden (vgl. BGH VersR 1992, 745) . Hat sich kein krankhafter, sus- pekter oder sonst von der Norm abweichender Befund ergeben, genügt ein Vermerk „o. B.“. Diente die Unter- suchung der Ausräumung eines Verdachts oder zur Ab- klärung eines Beschwerdebildes, müssen auch negative Befunde dokumentiert werden (BGH VersR 1995, 706; OLG Stuttgart VersR 1998, 1550). Die rechtlichen Konsequenzen einer unterbliebenen oder mangelhaften Dokumentation sind erheblich. Nach § 630 h Abs. 3 BGB wird vermutet, dass der Arzt die Maßnahme nicht getroffen hat, wenn er sie ent- gegen § 630f Abs. 1 oder 2 BGB nicht aufgezeichnet hat. Zwar kann der Arzt im Prozess diese Vermutung etwa durch Zeugenbeweis widerlegen. Der Beweis ist aber häufig schwierig zu führen. Im Verfahren vor der Gut- achterkommission führt die Vermutungswirkung zur Feststellung eines Behandlungsfehlers, weil die Gut- achterkommission ihrer Beurteilung die Dokumenta- tion zugrunde legt. Nach ihrem Statut ist keine Ver- nehmung von Zeugen oder Beteiligten vorgesehen. Es handelt sich eben nicht um ein gerichtliches Verfahren. In den letzten Jahren wurden fünf Diagnosefehler Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, bei der Krebsvorsorge des weiblichen Genitales eine leitliniengerechte Befundung der Vulva und Vagina zu erheben und diese zu dokumentieren. von Jörg Baltzer, Rainer Rosenberger und Beate Weber Gynäkologie

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