Rheinisches Ärzteblatt 01/2023

Thema 14 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 1 / 2023 Inanspruchnahme vonPsychotherapie bewege sichhingegen über die Zeit relativ stabil bei sechs Prozent – ein Ergebnis, das im Widerspruch zum Belastungsempfinden stehe. Ravens-Sieberer macht dafür in erster Linie die begrenztenBehandlungskapazitäten verantwortlich. Wie die Kinder- und Jugendpsychiaterin betonte, hat auch die Zahl der psychosomatischen Beschwerden zugenommen, darunter Einschlafprobleme, Kopfschmerzen sowie Bauch- undRückenschmerzen. Selbst imVerlauf dieses Jahres sei einAnstiegder Beschwerden zu verzeichnen gewesen, obwohl zahlreiche Coronamaßnahmen gelockert worden seien. Wie zuvor der Pädiater Wirth stellte auch Ravens-­ Sieberer die besondere Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen aus ärmeren Familien heraus. Kinder und Jugendliche erlebten die Veränderungen durch die Coronapandemie als besonders belastend, wenn ihre Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss oder einen Migrationshintergrund hätten, sie auf engem Raum lebten oder die Eltern selbst psychisch belastet seien. Diese Risikogruppe habe in den verschiedenen Befragungen eine zwei- bis dreifach so hohe Wahrscheinlichkeit gehabt, psychische Auffälligkeiten, Ängste und depressive Symptome zu entwickeln. Umgekehrt litten Kinder und Jugendliche, die Halt in der Familie fänden und eine feste Alltagsstruktur hätten, weniger häufig an psychischen Auffälligkeiten. Man tue deshalb gut daran, auch das Befinden der Eltern in den Blick zu nehmen, so Ravens-Sieberer. Ihr Fazit: In zukünftigenKrisenmüssten sich dieMaßnahmen zu deren Bewältigung – wie auch vom Expertenrat der Bundesregierung gefordert – am Kindeswohl orientieren. „Das haben wir diesmal nicht geschafft“, so Ravens-Sieberer. Für belastete Kinder und Jugendliche forderte sie rechtzeitige und umfassende Hilfen. Aber sie betonte auch: „Die meisten Kinder werden diese Krise gut überstehen und sich gesund entwickeln.“ Schulsozialarbeit ausbauen Die Ergebnisse der COPSY-Studie umRavens-Sieberer nahm die SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag zumAnlass, die Landesregierung aufzufordern, die Schulsozialarbeit und die Schulpsychologie auszubauen und dauerhaft zu fördern. Zurzeit erfolgt die Zuweisung der Mittel immer nur für ein Schuljahr und auch nur befristet bis zum31. Juli 2025. Der entsprechende Antrag wurde Mitte November in den Ausschüssen für Gesundheit und Familie beraten. Die SPD-Abgeordneten sprechen sich darin auch dafür aus, Gesundheitsfachkräfte an den Schulen zu beschäftigen, die Schüler und deren Eltern niederschwellig in Fragen der psychosozialen Gesundheit beraten. In der Sachverständigenanhörung erklärte der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in einer schriftlichen Stellungnahme, der Verband unterstütze „ausdrücklich jede Form von Maßnahmen zur gezielten Förderung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“. Insbesondere Kinder mit Therapie- oder Förderbedarf hätten in der Hochzeit der Pandemie lange auf Angebote wie Frühförderung verzichten müssen. Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie seien nicht oder nicht mit der üblichen Frequenz angeboten worden. Weil in den Gesundheitsämtern die Kapazitäten für Routineaufgaben fehlten, seien Schuluntersuchungen zur Feststellung von Defiziten oder Förderbedarf in zwei Jahrgängen nur zumTeil oder gar nicht durchgeführt worden. „Alle diese verpasstenDingewirken sich bei Kindern auch jetzt häufig noch auf den Entwicklungsstand aus und erfordern aus ärztlicher Sicht häufig eine Intensivierung von Förder- und Therapiemaßnahmen“, heißt es in der Stellungnahme. In eine ähnliche Richtung zielt die jüngste Ad-hoc-­ Empfehlung des Deutschen Ethikrats zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie, die der Rat am 28. November vorgelegt hat. Neben dem Ausbau niedrigschwelliger und flächendeckender schulpsychologischer und psychosozialer Unterstützungsangebote forderte er darin auch, „die Forschung über die Folgen vonMaßnahmen zur Bewältigung gesellschaftlicher Krisen (nicht nur von Pandemien)“ zu fördern. Esmüsse sichergestellt werden, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in künftigen Krisen mit allen Kräften geschützt würden, so der Ethikrat. Während der COVID-19-Pandemie sei nicht hinreichend gewürdigt worden, welchen psychischen Belastungen diese durch die Pandemie selbst und die zu ihrer Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen ausgesetzt waren. Über die Ursachen und die Prävalenz von Long-COVID bei Kindern und Jugendlichen weiß man noch wenig. Insgesamt gehe man davon aus, dass ein Viertel der Kinder nach einer Coronainfektion „in irgendeiner Form“ von Long-COVID betroffen sei, sagte Dr. Lynn Eitner, Fachärztin für pädiatrische Neurologie an der Universitätsklinik für Kinder und Jugendmedizin in Bochum beim 9. Kammerkolloquium Kindergesundheit am 19. November in Düsseldorf. Dabei sei das Spektrum der Beschwerden breit und Diagnostik und Therapie entsprechend kompliziert. Umso wichtiger sei es, dass die unterschiedlichen Fachdisziplinen gut zusammenarbeiteten. Dr. Folke Brinkmann, kommissarische Leiterin der Abteilung für pädiatrische Pneumologie am Universitätsklinikum Bochum, wies darauf hin, dass für Long-COVID typische Beschwerden wie zum Beispiel Fatigue, Kopfschmerzen oder verminderte Belastbarkeit auch als reine Pandemieeffekte bei nicht coronainfizierten Kindern und Jugendlichen auftreten (Post-Lockdown-Syndrom). Das treffe allerdings nicht auf Beschwerden wie Dyspnoe sowie Geruchs- und Geschmacksverlust zu. Auch somatosensorische Funktionsstörungen des peripheren Nervensystems seien in einer Studie von Eitner an 81 Kindern und Jugendlichen bei 30 Prozent der Coronainfizierten und nur bei fünf Prozent der Kontrollgruppe nachweisbar gewesen. Brinkmann verwies allerdings auch darauf, dass die Selbstheilungsrate bei Long-COVID bei Kindern und Jugendlichen hoch sei. Nur selten benötigten Betroffene eine spezialisierte somatische, psychologische oder psychiatrische Behandlung. Long-COVID bei Kindern: Noch viele Fragen offen

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