Rheinisches Ärzteblatt 01/2023

Thema Rheinisches Ärzteblatt / Heft 1 / 2023 13 Mittelfeld. Kitas seien hingegen mit 61 Tagen häufiger komplett geschlossen gewesen als imSchnitt der untersuchten OECD- und Partnerländer mit 55 Tagen. Dabei lässt sich der Beitrag, den die Schul- und Kitaschließungen zur Eindämmungder Pandemie geleistet haben, nachAnsicht der Sachverständigen – trotz biologischer Plausibilität – nicht exakt beziffern. Die Datenlage reiche nicht aus, umdie genaueWirksamkeit zubemessen. Zumeinen fehle ganz grundsätzlich eine systematische Begleitforschung zu einmal getroffenen Maßnahmen. Zum anderen sei neben den Schließungen in den Schulen und Kitas eine ganze Reihe von Instrumenten zur Pandemiebekämpfung gleichzeitig zum Einsatz gekommen, darunter Maskenpflicht, Abstandsregeln und Lüftungskonzepte, was eine Evaluation von Einzelmaßnahmen unmöglich mache. Eigenes Laptop, Tablet? Fehlanzeige Die nicht-intendierten Auswirkungen der Schul- und Kitaschließungen auf das körperliche und seelische Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen seien jedoch „nicht von der Hand zuweisen“, heißt es in demBericht. Der Distanzunterricht über digitale Plattformen habe insbesondere jüngere Kinder überfordert sowie Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Verhältnissen benachteiligt, die zumTeil nicht über eineigenes Zimmer, über WLAN, Laptop oder Tablet verfügten. Das habe soziale Ungleichheiten verschärft. Der Sachverständigenausschuss rät deshalb, beim zukünftigen Umgang mit PandemiendasKinderwohl vorrangig zuberücksichtigen. Bereits im Februar dieses Jahres hatte der Expertenrat der Bundesregierung zu COVID-19 darauf hingewiesen, dass insbesondere mit Blick auf die sekundäre Krankheitslast bei Kindern und Jugendlichen infolge der Lockdowns Infektionsschutz und soziale Teilhabe sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssten. Schul- und Kitaschließungen sollten in Zukunft allenfalls als ultima ratio in Betracht gezogen werden. Zu einem ähnlichen Schluss kamAnfang November Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf der Grundlage der Corona-Kita-Studie des Deutschen Jugendinstituts und des RKI. Die Kita-Schließungen zu Beginn der Pandemie seien „definitivmedizinischnicht angemessen“ und in demUmfang „nach heutigemWissen nicht nötig“ gewesen, zitiert ihn die Süddeutsche Zeitung. Die Kita-Kinder seien keine wichtigen Treiber der Pandemie gewesen, so Lauterbach. Die Ansteckungsrate habe in den Kitas selbst etwa fünfmal niedriger gelegen als in denHaushalten der betroffenen Familien. Zudem hätten Maßnahmen wie die Bildung von Kleingruppen, das Tragen von Masken durch das Personal sowie regelmäßiges Lüften Wirkung gezeigt. Pädiater hatten bereits imMai 2020 nach demersten Lockdown vor erheblichen psychischen und sozialen Konsequenzen durch Schul- und Kitaschließungen gewarnt. „Vor demHintergrund dieser Kollateralschäden sollten Schulschließungen, insbesondere über einen längeren Zeitraum, wissenschaftlich gut und nachvollziehbar begründet werden“, schrieben sie im Deutschen Ärzteblatt. Unter anderem verstärkten sich in Phasen ohne Beschulung bereits bestehende Unterschiede im Hinblick auf mathematische und sprachliche Fähigkeiten zwischen Kindern aus niedrigeren und höheren sozioökonomischen Schichten deutlich. Über eine Zunahme von psychischen Auffälligkeiten, depressiven Symptomen und Ängsten bei Kindern und Jugendlichen infolge der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie berichtete jetzt in Düsseldorf Professor Dr. phil. Ulrike Ravens-Sieberer, Forschungsdirektorin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik amUniklinikumHamburg-Eppendorf. Sie ist Mitautorin der COPSY-Studie (Corona undPsyche), die inmittlerweile fünf Befragungswellen, von denen drei ausgewertet sind, die Auswirkungen der Coronapandemie auf die psychische Gesundheit undLebensqualität vonKindernund Jugendlichenuntersucht. Befragt wurdenmehr als 1.500 Elternmit Kindern im Alter von sieben bis 17 Jahren sowie mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche im Alter von elf bis 17 Jahren. Im Ergebnis fühle sich die Mehrheit der befragten Kinder und Jugendlichen auch eineinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie noch belastet. So habe durch die Kontaktbeschränkungen beispielsweise das Verhältnis zu Freunden gelitten, viele empfänden das Lernen als anstrengender als vor der Pandemie und ein Viertel der Kinder berichte über häufigere Streitigkeiten zu Hause. „Die Lebensqualität der Kinder hat sich im Laufe der Pandemie verschlechtert – psychisch, physisch und sozial“, sagte Ravens-Sieberer. Angstsymptome, von denen 30 Prozent der Befragten berichteten, psychische Auffälligkeiten (48 Prozent) und depressive Symptome (24Prozent) hätten sich imWinter 2020/2021 imVergleich zu vor der Pandemie zumTeil verdoppelt. Danach seien die Werte ein wenig gesunken, lägen aber immer noch deutlich über dem vorpandemischen Niveau, wobei Mädchen häufiger betroffen seien als Jungen. Die „Statt Fußball zu spielen oder sich anderweitig zu bewegen, haben viele Kinder die Zeit vor dem Fernseher oder dem Computer verbracht.“ Professor Dr. Stefan Wirth, ehemaliger Chefarzt des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin am Helios Universitätsklinikum Wuppertal Foto: privat „Kinder und Jugendliche, die Halt in der Familie finden und eine feste Alltagsstruktur haben, leiden weniger häufig an psychischen Auffälligkeiten.“ Professor Dr. phil. Ulrike Ravens-Sieberer, Forschungsdirektorin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf Foto: UKE

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