Rheinisches Ärzteblatt 5/2023

Rheinisches Ärzteblatt / Heft 5 /2023 27 Wissenschaft und Fortbildung – Aus der Arbeit der Gutachterkommission, Folge 137 xis bekannten Mitte 60-jährigen Patienten mit Schulterarmbeschwerden nach Sturz. 2. Unterlassen einer indizierten Arzneimitteltherapie – Häufigster Einzelfehler war die in jedem dritten Fehlerfall festgestellte unterlassene beziehungsweise zu spät eingeleitete Arzneimitteltherapie oder -Prophylaxe. Beispielsweise wurde neunmal eine Antibiotika-Prophylaxe und 26mal eine Antibiotikatherapie versäumt sowie 22-mal verspätet veranlasst. In 26 der 48 Fälle fehlte es dabei an einer zeit- beziehungsweise sachgerechten Befunderhebung. Gerinnungsbeeinflussende Präparate wurden 24-mal versäumt und siebenmal zu spät indiziert, darunter neunmal eine ASS-100 Sekundär-Prophylaxe und eine Aspisol 500 mg-Gabe, achtmal eine Thrombose-Prophylaxe, sechsmal eine therapeutische Antikoagulation und siebenmal eine Lyse. In 16 Fällen lagen nicht oder zu spät erkannte zerebrale Durchblutungsstörungen, dreimal eine Lungenembolie, zweimal eine tiefe Beinvenenthrombose und ein Zustand nach Aortenklappenersatz vor. 3. Unsachgemäße Durchführung Dosierung – Unter den 331 Fehlern bei der Durchführung der Arzneimittelverabreichung fanden sich am häufigsten Dosierungsfehler (n=52). Überdosierungen wurden in 32 Fällen festgestellt, darunter sieben bei gerinnungsbeeinflussenden Präparaten und zwei Thrombose-Prophylaxen, sechs Kortisongaben, jeweils zwei Analgetika- sowie Baclofengaben, ein Antibiotikum, eine Colchicingabe sowie andere Einzelfälle. Unterdosierungen lagen 20-mal vor, darunter bei fünf die Gerinnung beeinflussenden Präparaten, jeweils drei Thrombose-Prophylaxen sowie Analgetikagaben, zwei Antibiotika- und Antihypertensivaverabreichungen sowie in Einzelfällen wie beispielsweise von Metformin bei Diabetes mellitus oder eine augendrucksenkende Tropfentherapie bei Glaukom. Im Einzelnen wurde beispielsweise b ei einem Mitte 60-jährigen Patienten nach einer Koronarangiographie (INR 1,04, PTT 29 Sekunden) die postdiagnostisch über zwei Tage pausierte Vormedikation mit Marcumar (mit 3 – 2,5 – 3 – 0,5 – 0 – 0,5 – 0) und Clexane 0,8 zweimal täglich über sechs Tage im Jahr 2015 bis zu einem dann erst bestimmten INRWert von 6,51 fortgeführt, obwohl ab dem zweiten Tag Leistenbeschwerden und am dritten Tag ein schlussendlich massives Leistenhämatom mit Anämie (Hb 6,8 g/dl) und dann dauerhafter Nervenstörung des N. ischiadicus/N. femoralis vorlagen und das Kreatinin am 6. Einnahmetag 3,4 mg/dl betrug, was in Ermangelung von Laborerhebungen bis dahin unbemerkt geblieben war. b ei einer Mitte 70-jährigen Patientin mit absoluter Arrhythmie mit Vorhofflimmern die erfolgreiche Aufsättigungsdosis von Amiodaron 5 x 200 mg/Tag nach zwei Wochen als Dauertherapie über vier Monate im Jahr 2015 weitergeführt mit der Folge einer lebensbedrohlichen Intoxikation mit kardialer Dekompensation sowie pathologischen Leukozyten- und Leberwerten, die glücklicherweise nach vier Wochen rekonvaleszent war. Indikation nicht erneut geprüft – ein Einzelfehler, der gerade bei der Schmerzmittelgabe in 16 der 35 Fehlerfälle vorlag. Beispielweise e rhielt eine zum damaligen Zeitpunkt Anfang 60-jährige Patientin mit chronischen Schmerzen neben einem Antidepressivum regelmäßig über zehn Jahre relativ hoch dosiert Valoron N (über fünf Jahre 50 mg monatlich/zweimonatlich, ab dann 100 mg, 2015 zusätzlich auch Diclofenac-Injektionen, zuletzt im Frühjahr 2015 Tilidin 100 mg) mit der Folge einer Opioidabhängigkeit mit Geh- (un)fähigkeit und Orientierungslosigkeit/Verwirrtheit. Eine Aufklärung der Patientin über das Risiko wurde nicht dokumentiert. Es stellt sich für den Gutachter die Frage, warum die Patientin nicht in eine für dieses Krankheitsbild spezialisierte Therapieeinrichtung überwiesen wurde. w urde bei der Praxisübernahme eine bereits seit 16 Jahren bestehende Langzeitverordnung des niedrigpotenten Antipsychotikums Chlorprothixen 50 mg ohne Beschwerdeanamnese/Diagnose und Risikoaufklärung über vier Jahre fortgeführt bis dann erst die Empfehlung ausgesprochen wurde, zur Indikationsüberprüfung einen Psychiater aufzusuchen. Auswahl fehlerhaft – In 29 Fällen wurde die Auswahl des Arzneimittels als fehlerhaft bewertet, beispielsweise f ünfmal ein aufgrund der eher blanden Infektsituation nicht indiziertes (Reserve)-Antibiotikum, darunter zweimal Levofloxacin, einmal in Verbindung mit einer systemischen Kortisongabe bei Verdacht auf einen leichten Atemwegsinfekt, dreimal Ciprofloxacin bei Verdacht auf Harnwegsinfekt, zweimal bei leichtem Atemwegsinfekt; in vier Fällen fehlte es auch am Nachweis einer sachgerechten Risikoaufklärung. Nebenwirkungen nicht berücksichtigt – In 19 Fällen blieben Nebenwirkungen unberücksichtigt, zum Beispiel w urde bei einem Ende 50-jährigen Patienten im Jahr 2017, der bereits bei der Aufnahme unter antituberkulostatischer vierfach Therapie erhöhte Leberwerte aufwies (GOT 177 U/l, GPT 294 U/l, am Folgetag GOT 233 U/l, GPT 323 U/l), die Verabreichung mindestens drei weitere Tage (Dokumentationsmangel) fortgeführt, ohne dass nach dem zweiten Behandlungstag Laborkontrollen über weitere zehn Tage erfolgten, sodass das medikamentös-toxische Leberversagen (GPT 3.797 U/l) zu spät intensivmedizinisch behandelt wurde. w urde bei einer Mitte 80-jährigen Patientin an einem Wochenende im Jahr 2016 nach häuslichem Sturz mit stark schmerzhaften Prellungen eine stationäre Schmerztherapie mit fünf mg Morphin s.c. und Tilidin/Naloxon 50/4 mg zweimal täglich unter einer Bedarfsmedikation von maximal 3 x 5 mg Morphin subkutan begonnen, die nachfolgend zu einer Bewusstseinstrübung führte. Dieser Umstand wurde durch den informierten Arzt vom Dienst auf die Morphin-Gabe zurückgeführt, was ihm aber unbedenklich erschien, da „keine Atemdepression“ auftrat, sodass von ihm „ein Antidot nicht als erforderlich angesehen wurde“. Nachts wiederaufgetretene Schmerzen wurden erneut mit 5 mg Morphin behandelt, was zu einer neuerlichen Eintrübung bei Opiat-Überhang führte. Als Behandlungsfehler wurde bewertet, dass der Arzt vom Dienst die Bedarfsmedikation nicht sogleich auf ein weniger delirantes Opioid wie Tilidin, Naloxon oder Oxycodon umgestellt hatte. B ehandlungsfehlerhaft erhielt ein Zweijähriger im Jahr 2018 infolge einer Verwechslung das Thyreostatikum Thiamazol in der Dosis 2 x 200 mg/Tag statt des

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