Der vierte Weg
Einen Freistoß schießt man über die
Mauer. Oder seitlich vorbei. Oder mittendurch. Aber ‚drunterher‘?
D
amit rechnete am 5. De-
zember 2006 niemand
im ‚Estadio Camp Nou‘
in Barcelona – aber es
hatte ja auch niemand Ronaldin-
ho auf der Rechnung. Auch Wer-
ders Mauer nicht...
Ganz oben im ‚Camp Nou‘,
in die-
sem riesigen Stadion des FC Bar-
celona, ist gut beraten, wer ein
Opernglas dabei hat. Die steilen
Tribünen recken sich hoch bis in
den vierten Rang, und weit, weit
unten ist der Rasen. Die Spieler?
Kleine Punkte.
Es ist ein
Champions-League-
Abend an jenem 5. Dezember
2006,
das letzte Gruppenspiel,
und die spanische Kollegin ne-
ben mir hat an ihr Opernglas ge-
dacht. Ausgesprochen praktisch:
Vier Augen sehen 40 oder 50 Me-
ter oberhalb der Grasnarbe we-
sentlich mehr als zwei. Das Spiel
der Stars um Weltstar Ronaldin-
ho, die gegen Werder gewinnen
müssen, kann also beginnen.
Ronaldinho.
Dieser schmale Brasi-
lianer mit dem kindlichen Gesicht
ist das Größte, was der Weltfuß-
ball Mitte der vergangenen De-
kade zu bieten hat. Der Hype um
ihn hält absurde Züge bereit, zu
besichtigen während der Presse-
konferenz am Tag vor jenem Spiel
gegen Werder. Im flachen, engen
Medienraum im Keller des ‚Camp
Nou‘ ist nicht zu unterscheiden,
wer ihn da mit Applaus und ver-
zückten Rufen begrüßt. Journa-
listen? Fans? Auf allernächste
Tuchfühlung geht ein Reporter,
der sich während der Fragerun-
de Zentimeter um Zentimeter an
Ronaldinho heranschiebt – bis er
ihm mit leuchtenden Augen und
breitem Grinsen ein Trikot vor die
Nase halten kann. Autogramm,
bitteschön.
Ronaldinho“,
beantwortet die
Kollegin mit dem Opernglas 24
Stunden später meinen fragen-
den Blick und zeigt nach unten.
Das Spiel läuft 13 Minuten, der
Umschwärmte liegt auf dem Ra-
sen. Ein Foul, Freistoß für Barca.
Werder stellt seine Mauer, von
links stehen Torsten Frings (1,82
Meter), Hugo Almeida (1,91), Mi-
roslav Klose (1,82), Naldo (1,98),
Per Mertesacker (1,98) und Tim
Borowski (1,94) für die Unver-
sehrtheit des Bremer Tores gerade.
Was in den nächsten
Sekunden
folgt, ist ein Spektakel. Es ist ein
Tor, das man nicht vergisst, auch
wenn für Werder der Schuss
sprichwörtlich nach hinten los-
geht. Nicht drüber, nicht seit-
lich vorbei, nicht mittendurch
Ronaldinho entscheidet sich für
den vierten Weg: ‚drunterher‘.
Und Werders Mauer macht den
Weg frei. Almeida, Klose, Naldo,
Mertesacker – sie überwinden
mühelos die Schwerkraft und
landen auf dem Boden der Tat-
sachen, als der Ball zum 1:0 ins
Tor saust. Die 96.000 Zuschauer
toben, die Journalisten schauen
sich fassungslos an. „Increible,
increible“, ruft die Kollegin mit
dem Opernglas immer wieder,
lacht, „increible, increible“. Un-
glaublich. Was anderes fällt mir
auch nicht ein.
Am Tag danach –
Werder hat mit
0:2
verloren – sind die Bremer
Stand-Punkte‘ beim Mauerbau
Thema Nummer eins. Springen
oder nicht springen? Thomas
Schaaf entpuppt sich als Verfech-
ter des Bodenkontakts. Frings,
der stehen geblieben war, spricht
sich ebenfalls gegen den Total-
verlust der Bodenhaftung aus:
Da darf man nur ein bisschen
hochspringen, zehn Zentimeter
vielleicht.“
Die, die sprangen,
sehen das an-
ders. Naldo zum Beispiel, der mit
Abstand am höchsten gehüpft
war. Warum eigentlich? „Um
noch etwas größer zu sein.“ Und
Almeida gar hat Ronaldinhos
Coup zunächst für einen Fehlver-
such gehalten: „Ich dachte, er hat
schlecht geschossen.“ Dabei war
es ein Genie-Streich – das spekta-
kulärste Gegentor der Grün-Wei-
ßen der vergangenen Jahre. „In-
creible“. Selbst ohne Opernglas.
Thorsten Waterkamp
THORSTEN
WATERKAMP
ist Redakteur des Weser-Kurier
und arbeitet seit 2001 in der
Hauptsportredaktion der Bremer
Tageszeitung. Seit 2006 ist der
44
Jahre alte Achimer einer von
vier Kollegen, die für den Weser-
Kurier über Werder berichten
und den Club begleiten. Der
gebürtige Westfale begann seine
Redakteurstätigkeit 1993 bei den
Westfälischen Nachrichten in
Münster – und kann bis heute
nicht von seinem liebsten Hobby
lassen: selbst Fußball zu spielen.
Foto: picture-alliance
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WERDER-ERINNERUNGEN