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Die Gutachterkommission hat sich häufig mit Sachverhalten

beschäftigen müssen, bei denen es um die rechtzeitige Er-

kennung einer Hodentorsion ging

(siehe auch Seite 21)

. Ein

besonders gelagerter Fall gibt Anlass, über diese Problema-

tik erneut zu berichten.

Die Torsion wird durch eine krampfartige Kontraktion der

Muskeln des Samenstranges ausgelöst mit der Folge einer

Durchblutungsstörung von Hoden und Nebenhoden. Das

Leitsymptom der Hodentorsion ist der plötzlich einsetzen-

de, sich langsam steigernde Schmerz im Hoden oder Neben-

hoden,der allerdings in manchen Fällen zunächst im Bauch-

raum, in der Leisten- oder Nierenregion verspürt wird und

erst später den Hoden erreicht.

Deshalb ist es notwendig, bei einer Abklärung von Bauch-

schmerzen, insbesondere bei Jugendlichen, eine akute Er-

krankung des Hodens differenzialdiagnostisch in die Über-

legungen des untersuchenden Arztes einzubeziehen. Der

Verdacht auf eine Torsion ergibt sich aus den symptomati-

schen Schmerzen und dem Befund eines druckschmerzhaf-

ten, oft zunächst nicht vergrößerten Hodens oder Nebenho-

dens. Begleitet wird der Schmerz in etwa 10 Prozent der Fälle

von peritonealen Reizerscheinungen (Übelkeit, Erbrechen,

Abwehrspannung).Vor und während der Pubertät sind Ver-

drehungen des Samenstranges die häufigste, bis zum 30. Le-

bensjahr nach einer Nebenhodenentzündung die zweithäu-

figste Ursache eines akuten Hodenschmerzes.

Da die Beschwerden, die auf eine akute Hodentorsion hin-

deuten, häufig am frühen Morgen auftreten, gehört die

rechtzeitige zutreffende Beurteilung dieser Symptomatik zu

den Aufgaben, die vor allem auch im Notfalldienst von Ärz-

ten aller Fachrichtungen wahrzunehmen sind.

Die Gutachterkommission hat bei ihren Beurteilungen in

zahlreichen Fällen vermeidbare Diagnosemängel festge-

stellt, die in der Regel zum Verlust des betroffenen Hodens

führten.Die Behandlungsfehler betrafen in erste Linie Chir-

urgen, Urologen, Allgemeinmediziner, Internisten und Päd-

iater.

Im nachfolgend geschilderten Fall verursachten schwerwie-

gende diagnostische Versäumnisse bei einem Jugendlichen

den Verlust des rechten Hodens.

Der Sachverhalt

Am frühen Morgen des 30. Januar klagte der 13-jährige Pa-

tient über starke Unterbauchschmerzen mit Fieber, Er -

brechen und Schweißausbruch. In der Ambulanz der be-

schuldigten Chirurgischen Klinik wurde er gegen 8.15 Uhr

untersucht. Es fanden sich imWesentlichen folgende Befun-

de: Patient blass, Abdomen weich, Druckschmerz im rech-

ten Unterbauch, keine Abwehrspannung, Nierenlager frei,

Peristaltik spärlich. Bei einer Abdomen-Übersichtsaufnah-

me in linker Seitenlage zeigte sich eine mäßige Verstopfung

ohne Hinweis auf freie intraperitoneale Luft oder Ileuszei-

chen. Die Körpertemperatur betrug rektal 36,6° C. Die Blut-

werte waren im Normbereich. Der untersuchende Arzt

stellte die vorläufige Diagnose: „Appendizitis, Differential-

diagnose Gastroenteritis“.

Stationäre Behandlung

Der Patient wurde gegen 9 Uhr auf die Station übernom-

men; er erhielt Infusionen mit Paspertin und ein Klysma

zum Abführen. Danach erfolgte eine Untersuchung durch

den Oberarzt, der sich vorerst gegen eine Operation ent-

schied.

Gegen 12.30 Uhr waren nach Darmentleerung die Beschwer-

den noch vorhanden; etwa eine Stunde später nahmen sie

zu. Darauf wurde die Indikation zur Operation gestellt

(„Entfernung des Blinddarms bei Blinddarmentzündung“).

Der Operationsbericht führt an, dass nach dem Eröffnen des

Peritoneums eine etwa 6 cm lange gefäßinjizierte Appendix

in typischerWeise abgetragen worden sei. Nach dem mikro-

skopischen Befund des Pathologen vom 1. Februar handelte

es sich um Appendixgewebe mit einer Fibrose und einer

leichtgradigen chronischen Entzündung.

Am 31. Januar wies der Patient gegen 19 Uhr auf seinen ge-

schwollenen Hoden hin. Es wurde ein Hodenkissen verord-

net. Außerdem erhielt der Junge Eis zum Kühlen für den

Hoden. Am nächsten Tag gegen 6.30 Uhr klagte der Patient

über starke Schmerzen; er erhielt eine „Bedarfsmedikation“.

Gegen 9 Uhrwaren die Schmerzen rückläufig.Gegen 10 Uhr

meldete sich die Mutter mit der Angabe, der Patient habe

einen stark geschwollenen, geröteten Hoden, der extrem

druckschmerzhaft sei. Die Mutter gab weiter an, die

Schwellung bestehe schon seit dem gestrigenTage; der Sohn

habe aus Scham nichts darüber gesagt. Nach dem Pflegebe-

richt hatte sich der Zustand so verschlechtert, dass der Junge

kaum noch laufen konnte. Es wurde eine Konsiliaruntersu-

chung durch einen niedergelassenen Urologen veranlasst,

der einen stark geschwollenen und blau unterlaufenen rech-

ten Hodensack feststellte. Die Schwellung des Hodens war

schmerzhaft.

Stationäre urologische Behandlung

Wegen des Verdachts auf eine Hodentorsion rechts wurde

der Patient noch am Vormittag des 1. Februar notfallmäßig

in der Urologie eines anderen Krankenhauses aufgenommen.

Dort erfolgte nach sonographischemNachweis einer fehlen-

den Durchblutung des rechten Hodens zwischen 13.10 und

15.15 Uhr die Operation. Bei der skrotalen Freilegung zeigte

sich der rechte Hoden„tiefbläulichschwarz“ verfärbt im Sin-

ne einer ischämischen Durchblutungsstörung. Der Samen-

strang war mäßig verdickt ohne jetzt bestehende Torsion.

ImAnschnitt war das Hodengewebe völlig infarziert, so dass

die Entfernung der Hodengebilde indiziert war. Nach dem

pathoanatomischen Befund des Pathologen zeigte sich ein

Gutachtliche Entscheidungen

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Hodentorsion rechtzeitig erkennen

Differenzialdiagnostische Versäumnisse