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Der am 22. April erneut zugezogene Internist äußerte auf-

grund der fortbestehenden Befunde wiederum denVerdacht

auf eine HIT-II und riet nach der Phlebographie der Beine,

die links eine tiefe Beinvenenthrombose aufzeigte, zur Ver-

legung in die Medizinische Klinik. Das Blutbild ergab nun

37 G/l Thrombozyten bei bisher fortgesetzterThrombosepro-

phylaxe mit 3 x 7500 E Heparin täglich,Quickwert 54,3 Pro-

zent, PTT 55,8 sek., Erythrozyten 4,05 Mill/mm3. Die Ver-

legung amAbend des 22.April erfolgte mit der Empfehlung,

„die Heparinisierung effektiv fortzusetzen“.

In der Medizinischen Klinik wurde noch am späten Abend

für den nächsten Morgen eine operative Thrombektomie mit

Anlage einer AV-Fistel popliteal geplant und wegen des Ver-

dachts einer HIT-II die Therapie sofort von Heparin auf Or-

garan

®

umgestellt sowie dessen Effektivität durch nachfol-

gende Kontrollen der Thrombozyten geprüft.

Dramatische Entwicklung

In der folgenden Nacht gegen 2.30 Uhr wurde die Patientin

in nicht ansprechbarem Zustand angetroffen. Der sogleich

hinzugezogene neurologische Konsiliarius fand eine schlafen-

de, nicht adäquat erweckbare Patientin mit Blickparese nach

rechts, schlaffer und hochgradiger Halbseitenparese rechts

mit dem Verdacht auf einen Insult der linken Hemisphäre.

Das craniale Computertomogramm zeigte – noch – keine fo-

kalen Hyper- oder Hypodensitäten im Sinne von Blutungen

oder Infarkten.

Echokardiographie und Blutbild bestätigten zusammen mit

dem klinischenVerlauf eine HIT-II mit Phlebothrombose im

linken Bein und multiplen Lungenembolien. Wegen sono-

graphischer Hinweise auf einen Verschluss der linken Arte-

ria carotis communis kam als Ursache des ischämischen

Hirninfarktes eine lokale intra-arterielle Thrombosierung

im Rahmen der HIT-II in Betracht. Aufgrund dieser Befunde

wurde von einem gefäßchirurgischen Eingriff abgesehen.

Unter intensivmedizinischen Maßnahmen trat eine langsame

Besserung der neurologischen Symptomatik ein. Die linke

Arteria carotis interna war am 3. Mai wieder eröffnet mit

einer 30- bis 40-prozentigen Reststenose ohne hämodyna-

mische Relevanz, die linke Arteria carotis externa war frei

durchgängig. Die cranialen Computertomogramme zeigten

schließlich am 29. April einen ausgedehnten Infarkt der

linken Hemisphäre. Die Patientin wurde am 3. Mai zur wei-

terführenden Rehabilitation in eine entsprechende Klinik

verlegt.

Das zuständige Versorgungsamt stellte unter dem 29. Januar

des folgenden Jahres aufgrund der „Hemiparese, Aphasie

nach Schlaganfall, Spinalkanalstenose mit Zustand nach

Dekompressionsoperation, Beinvenenthrombose links und

multiplen Lungenembolien“ einen Grad der Behinderung

von 100 % fest.

Gutachtliche Beurteilung

Nach der ausgedehnten Operation im Bereich der Lenden-

wirbelsäule mit nachfolgender Immobilisation war eine

Thromboseprophylaxe indiziert, zumal die Thrombosege-

fahr wegen der Adipositas der Patientin erhöht war. Inso-

weit bestand kein Anlass, die mit Heparin eingeleitete The-

rapie zu beanstanden.

Da nach Beginn dieser Behandlung eine regelmäßige Be-

stimmung auch der Thrombozyten erforderlich ist, war zu-

nächst deren mangelhafte Kontrolle als fehlerhaft zu beur-

teilen. Diese hätte am 5. oder 6. April einsetzen müssen.

Bereits am 10. April und an den folgenden Tagen klagte die

Patientin über Beschwerden, die auf eine Phlebothrombose

(Schmerzen im linken Bein) und Thromboembolie (Atem-

not) verdächtig waren. Bildgebende Untersuchungen hätten

wahrscheinlich schon zu diesem Zeitpunkt Hinweise auf ei-

ne Phlebothrombose und Perfusionsstörungen der Lungen

ergeben.

Die erst am 15. April erfolgte Kontrolle der Thrombozyten

ergab mit 38 G/l – gegenüber dem Ausgangsbefund von

214 G/l – einen alarmierenden Wert, zumal Zwischenkon-

trollen fehlten und somit unbekannt war, seit wann die

Thrombozytopenie vorlag. Da an diesem Tage differenzial-

diagnostisch andere Ursachen einer Thrombozytopenie

(z.B. Verbrauchskoagulopathie, Sepsis, andere Medikamen-

te) nicht erkennbar waren, bedurfte es am 15. April nun-

mehr dringend der weiterführenden Diagnostik. Insbeson-

dere wäre der HIPA-Test, das heißt der Heparin-induzierte

Plättchen-Aktivierungs-Test, angezeigt gewesen, um als Ur-

sache der Thrombozytopenie die erhöhte Heparin-indu-

zierte Aggregation der Thrombozyten erkennen zu können.

Dies hätte zu der Konsequenz geführt, die Heparinbehand-

lung sofort zu beenden, umweitere gefahrenträchtige Throm-

boembolien so weit wie möglich abzuwenden. Bei weiter

indizierter Thromboseprophylaxe hätte man auf das Hepa-

rinoid Orgaran

®

oder auf rekombinates Hirudin umstellen

müssen. Stattdessen wurde die Heparintherapie fortgeführt,

und zwar noch nach dem vom internistischen Konsiliarius

am 19. April ausdrücklich geäußerten Verdacht auf eine

HIT-II-Erkrankung. Auch seine Empfehlungen wurden

nicht ausreichend

beachtet:Weitere

Kontrollen der Throm-

bozyten fanden erst am 22. April statt, eine Röntgenaufnah-

me des Thorax am 20. April und ein EKG am 22. April, das

eine vermehrte Rechtsherzbelastung erkennen ließ, eben-

falls als Hinweis auf Lungenembolien.

Fehlerhaft war weiter, dass auch nach dem erneut konsilia-

risch geäußertenVerdacht auf eine HIT-II eine entsprechen-

de Diagnostik, insbesondere aber der unverzügliche Ab-

bruch der Heparinbehandlung unterlassen, vielmehr noch

bei derVerlegung empfohlen wurde, die Heparinisierung ef-

fektiv fortzusetzen.

Der in der Nacht zum 23. April aufgetretene Hirninfarkt

links ist im Rahmen der HIT-II hier am ehesten auf akute

arterielle und venöse Gefäßverschlüsse durch Thrombozy-

tenthromben zurückzuführen.

Zusammenfassend wurde gutachtlich beanstandet: Die

mangelhafte Kontrolle der Thrombozyten, so dass die er-

hebliche Thrombozytopenie erst am 15. April festgestellt

wurde. Zu diesem Zeitpunkt begründeten auch schon Be-

schwerden den Verdacht auf eine mögliche Beinvenen-

thrombose und/oder auf Lungenembolien als Folge einer

HIT-II mit intravasalen Gefäßverschlüssen. Weiter wurde

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Gutachtliche Entscheidungen

Zur Diagnostik der Heparin-induzierten Thrombozytopenie