>
Beispiel 1 (zu Qualita¨t und Quantita¨t)
11
:
Die Information u¨ber die Gru¨ndung eines neuen Ge-
scha¨ftsfelds kann wegen ihrer Art als wesentlich angesehen
werden, auch wenn diese von der Gro¨ße her (noch) kaum
Auswirkungen auf die Rechenwerke hat.
Die Information u¨ber die eventuelle Mo¨glichkeit der Ab-
wertung einer Finanzanlage, deren Anteil an der Bilanz-
summe unter 1% liegt und deren mo¨glicher Abschrei-
bungsbetrag unter 1% des Jahresu¨berschusses liegt, wu¨rde
wohl als unwesentlich erachtet werden.
5.
Quantitative Anna¨herung an den Grundsatz der Wesent-
lichkeit
a) Absolute Gro¨ßenmerkmale
Fu¨r eine Quantifizierung der Wesentlichkeit erweisen sich abso-
lute Gro¨ßen i. d. R. nicht als zweckma¨ßig
12
.
Trotzdem gibt es
sie, insbesondere im Steuerrecht inklusive zugeho¨riger Rspr.
Diese Handhabung wird regelma¨ßig – gerade weil die Betra¨ge
unwesentlich sind – auch ins Handelsrecht u¨bernommen.
Die Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgu¨ter bis
410
€ (§ 6 Abs. 2 EStG), die sich formal aus einem Ansatzwahl-
recht ergibt, entspricht materiell einer Bewertung auf der Basis
des Wesentlichkeitsgrundsatzes. Hieran orientiert sich auch die
folgende BFH-Entscheidung.
>
Beispiel 2
13
:
Der X. Senat des BFH hatte einen Fall zu beurteilen, in dem
streitig war, ob und in welcher Ho¨he aktive Rechnungs-
abgrenzungsposten (RAP) auszuweisen sind. Ein Betriebs-
pru¨fer wollte Kfz-Steuern, Kfz-Versicherungen, Betriebshaft-
pflichtversicherung u. A¨ . i. H. von 3.817 € zusa¨tzlich bilden.
In U¨ bereinstimmung mit dem (in der Entscheidung ausfu¨hr-
lich zitierten) Schrifttum
14
urteilt der BFH, dass auf die Bil-
dung von RAP nach Maßgabe des Grundsatzes der Wesent-
lichkeit verzichtet werden darf, wenn
die abzugrenzenden Betra¨ge nur von
untergeordneter Be-
deutung
sind und
eine unterlassene Abgrenzung das Jahresergebnis nur
unwesentlich beeinflussen
wu¨rde.
Hinweis: Der X. Senat des BFH zitiert in seinem Urteil auch
Nichtbeanstandungsgrenzen der Verwaltung im Rahmen der
Betriebspru¨fung; danach sind RAP im Allgemeinen nach-
tra¨glich nur zu bilden oder zu a¨ndern, wenn die abzugrenzen-
den Aufwendungen insgesamt 1.500 € u¨berschreiten; eine
Saldierung von Aktiv- und Passivposten ist hierbei nicht vor-
zunehmen.
>
Beispiel 3 (Fallvariante zu Beispiel 2):
Sind geringfu¨gige Forderungen (unter 410 €) aktivierungs-
pflichtig?
Nach st. Rspr. ist der BFH der Auffassung, dass geringfu¨gige
Forderungen aktiviert werden mu¨ssen
15
.
Hinweis zur Unterscheidung von Beispiel 2 und 3:
Von der Rech-
nungsabgrenzung zu unterscheiden sind Fa¨lle, in denen es nicht
um den zeitgerechten Ausweis eines Postens geht, sondern um
die Frage, ob ein Bilanzposten dem Grunde nach auszuweisen
ist. Der Wesentlichkeitsgrundsatz schra¨nkt den Grundsatz der
Vollsta¨ndigkeit nur dort ein, wo aus Wirtschaftlichkeitsu¨ber-
legungen kein angemessenes Verha¨ltnis zwischen den Kosten
der Informationsbeschaffung und dem daraus resultierenden
Nutzen besteht.
Bilanz und GuV stellen konventionell „centgenaue“ Rech-
nungen dar
16
.
Posten oder Betra¨ge, die
als solche eindeutig feststehen und
keiner weiteren Bewertung mehr bedu¨rfen,
du¨rfen nicht weggelassen werden, weil sie betragsma¨ßig ohne
gro¨ßere Bedeutung sind
17
(
z. B. Centbetra¨ge bei Kasseneinnah-
men).
>
Beispiel 4
18
:
Streitig waren Ru¨ckstellungen eines Versicherungsvertreters
wegen Erfu¨llungsru¨ckstands aufgrund der Verpflichtung zur
Nachbetreuung von Versicherungsvertra¨gen, fu¨r die er nur
Abschlussprovisionen erhalten hat. Die Ho¨he der Ru¨ckstel-
lung betrug 284.609 € und wurde berechnet aus einem be-
stimmten Nachbetreuungsaufwand pro Vertrag und Jahr. Das
FA betrachtete jeden einzelnen Betreuungsaufwand pro Ver-
trag und Jahr und wollte die Bildung einer Ru¨ckstellung we-
gen Unwesentlichkeit der einzelnen Verpflichtung nicht ge-
wa¨hren.
Der BFH sah fu¨r die vom FA vertretene Atomisierung der
Verpflichtungen keine Grundlage. Vielmehr ist in der ho¨chst-
richterlichen Rspr. bereits gekla¨rt, dass nicht der Aufwand fu¨r
das einzelne Vertragsverha¨ltnis, sondern die Bedeutung der
Verpflichtung fu¨r das Unternehmen maßgebend ist
19
und gab
in diesem Urteil exakte Anweisungen dazu, wie die Nach-
betreuungsru¨ckstellung zu berechnen ist
20
.
Hinweis zur Unterscheidung zu Beispiel 2
:
Im
Beispiel 2
macht es wenig Sinn, viele, im Einzelnen sehr
unterschiedliche RAP mit ho¨chster Genauigkeit zu berechnen,
wenn der voraussichtliche Gesamtbetrag fu¨r den Gewinnausweis
ohne Bedeutung ist. Im Beispiel 4 sind
die abzugrenzenden einzelnen Betra¨ge zwar
von untergeordne-
ter Bedeutung
,
aber die Summe der Verpflichtungen, die bei einem Versiche-
rungsvertreter zum Wesen seiner Ta¨tigkeit geho¨ren, beein-
flusst das Jahresergebnis nicht nur unwesentlich (der Ver-
sicherungsvertreter kommt bei einer Ru¨ckstellungsho¨he von
284.609
€ zu einem Jahresfehlbetrag von 126.281 €, das FA
zu einem Jahresu¨berschuss von 158.328 €).
Dieser BFH-Entscheidung folgt auch das Schrifttum.
b) Relative Gro¨ßenmerkmale
Es liegt auf der Hand, fu¨r die Beurteilung der Wesentlichkeit re-
lativen Gro¨ßenmerkmalen den Vorzug gegenu¨ber absoluten
Gro¨ßen zu geben.
11
Nach
Pellens/Fu¨lbier/Gassen/Sellhorn,
Internationale Rechnungslegung,
7.
Aufl. 2008, S. 115.
12
Oser/Holzwarth
,
in: Ku¨ting/Pfitzer/Weber, Handbuch der Rechnungslegung –
Einzelabschluss, Loseblattwerk, 5. Aufl., Stand 14. EL, §§ 284-288 HGB
Tz. 9.
13
Vgl. BFH-Urteil vom 18. 3. 2010 – X R 20/09, BFH/NV 2010 S. 1796.
14
Z. B.
Adler/Du¨ring/Schmaltz
,
a.a.O. (Fn. 5), § 250 Rdn. 44 sowie § 252
Rdn. 128.
15
Vgl. z. B. BFH-Urteil vom 28. 9. 1967 – IV R 284/66, BStBl. III 1967 S. 761;
BFH-Urteil vom 18. 3. 1010 – X R 20/09, BFH/NV 2010 S. 1796, Rdn. 39.
16
Pittroff/Schmidt/Siegel
,
a.a.O. (Fn. 8), Kapitel B 161 Rdn. 47.
17
Adler/Du¨ring/Schmaltz
,
a.a.O. (Fn. 5), § 252 Rdn. 128.
18
Vgl. BFH-Urteil vom 19. 7. 2011 – X R 8/10, BFH/NV 2011 S. 2035.
19
Vgl. BFH vom 19. 7. 2011, a.a.O. (Fn. 18), Rdn. 27.
20
Vgl. BFH vom 19. 7. 2011, a.a.O. (Fn. 18), Rdn. 31.
2532
Betriebswirtschaft
DER BETRIEB | Nr. 45 | 9. 11. 2012