b) Libor-Manipulation als Wettbewerbsbeschra¨nkung durch
unlauteres Marktverhalten
Die vorstehenden Bedenken lenken den Blick auf die Frage, ob
die profitmotivierten Abreden bereits losgelo¨st von dem Vertrieb
Libor-gebundener Produkte wettbewerbsbeschra¨nkende Verein-
barungen darstellen. Wie eingangs dargelegt, erfolgten die Li-
bor-Manipulationen der Derivateha¨ndler, um (bank-)eigene
Zahlungspflichten aus Zins-Swaps und Zins-Futures zu verrin-
gern und damit den Anspruch des anderen Vertragsteils ganz
oder teilweise zu entwerten. Fraglich ist, ob hierin eine Wett-
bewerbsbeschra¨nkung i. S. des Kartellrechts liegt. Traditionell
versteht man darunter eine Einschra¨nkung der wirtschaftlichen
Handlungsfreiheit der an einer Maßnahme beteiligten Unter-
nehmen: Sie verzichten in Bezug auf bestimmte Aspekte ihres
Marktverhaltens darauf, miteinander zu konkurrieren
70
.
In neue-
rer Zeit stellt man demgegenu¨ber versta¨rkt darauf ab, ob sich ein
solches Vorgehen o¨konomisch negativ auf die Wahl- oder Beta¨-
tigungsmo¨glichkeiten Dritter, namentlich auf die Verbraucher-
wohlfahrt, auswirkt
71
.
Bei den hier in Rede stehenden Fallgestaltungen wird man
nach dem Zeitpunkt der Libor-Absprachen unterscheiden mu¨s-
sen:
(1)
Sofern die Absprachen, wie regelma¨ßig, erst kurzfristig vor
wichtigen Abrechnungsterminen und damit nach Abschluss
der Zins-Swap- und Zins-Future-Gescha¨fte zustande kamen,
fehlt es schon an einer Beschra¨nkung der
wettbewerblichen
Handlungsfreiheit bzw. einer Koordination des
Markt
verhal-
tens, die sich negativ auf Dritte auswirken ko¨nnte. Die Koor-
dination erfolgte vielmehr im Anschluss an vorgenommenes
Marktverhalten, um dessen Ertrag gu¨nstig zu beeinflussen.
(2)
Wurden Manipulationen dagegen ausnahmsweise schon vor
Gescha¨ftsabschluss verabredet, sei es in konkreter oder all-
gemeiner Form, so entspricht dies wirtschaftlich einer Ver-
einbarung, eine geringere Qualita¨t zu liefern oder den tatsa¨ch-
lichen Preis zu erho¨hen, mit der Besonderheit, dass beides fu¨r
den Vertragspartner nicht erkennbar war. Ein solches Vor-
gehen fu¨hrt in den Grenzbereich zwischen wettbewerbs-
beschra¨nkendem und unlauterem Marktverhalten. Art. 101
Abs. 1 AEUV erfasst unlautere oder rechtswidrige Verhal-
tensweisen nur, wenn sie in Absprachen oder aufeinander ab-
gestimmte Verhaltensweisen einfließen, die ihrerseits die
Marktbedingungen verfa¨lschen
72
.
Anerkannt ist das etwa fu¨r
einen verabredeten Boykott oder eine konzertierte Anwen-
dung gezielter Kampfpreise gegen Wettbewerber
73
.
A¨ hnliches
liegt fu¨r den hier in Rede stehenden Fall einer bezweckten
Entwertung des Leistungsanspruchs der Gegenseite nahe,
weil sich die Beteiligten dadurch von vorneherein unabha¨ngig
von den Preis- und Qualita¨tsforderungen der Vertragspartner
verhalten ko¨nnen. Dieses Verhalten kann man entweder unter
einen einheitlichen Oberbegriff der Wettbewerbsbeschra¨n-
kung subsumieren
74
oder als Wettbewerbsverfa¨lschung in
dem Sinne ansehen, dass sich die Kartellabsprache nicht un-
mittelbar, sondern nur mittelbar auf das Marktverhalten
bezieht, indem sie die Wettbewerbsbedingungen ku¨nstlich
vera¨ndert und damit den Wettbewerbsanreiz mindert
75
.
c) Informationsaustausch u¨ber Handelspositionen und zuku¨nftige
Derivatepreise
Eine dritte mo¨gliche Wettbewerbsbeschra¨nkung liegt darin, dass
sich die beteiligten Ha¨ndler u¨ber Handelspositionen, Preisset-
zungsabsichten in Bezug auf Zinsderivate und zuku¨nftige Deri-
vatepreise ausgetauscht haben
76
.
Die kartellrechtliche Beurtei-
lung dieses Verhaltens ha¨ngt davon ab, ob der vereinbarte Infor-
mationsaustausch unselbststa¨ndig, d. h. im Zusammenhang mit
einer anderen horizontalen Vereinbarung, oder selbststa¨ndig er-
folgte
77
.
Einen
unselbststa¨ndigen Informationsaustausch
pru¨ft die Kom-
mission zusammen mit der jeweiligen Horizontalverein-
barung
78
.
Ist diese wettbewerbswidrig, gilt Gleiches fu¨r den
flankierenden Informationsaustausch
79
.
Art. 101 Abs. 1
AEUV erfasst alle erga¨nzenden Vereinbarungen, welche die
Einhaltung einer Kartellabsprache sicherstellen sollen
80
.
Mit
Blick auf die Libor- und Euribor-Manipulationen liegt eine
solche unterstu¨tzende Funktion nahe: Die beteiligten Ha¨nd-
ler werden wahrscheinlich eher zu Manipulationsabsprachen
bereit gewesen sein, wenn sie die betreffenden Handelsposi-
tionen ihrer Gegenu¨ber kannten und dadurch deren Interes-
senlage besser einscha¨tzen konnten.
Ein
selbststa¨ndiger Informationsaustausch
fa¨llt als abgestimmtes
Verhalten unter Art. 101 Abs. 1 AEUV, wenn er das Markt-
verhalten eines Mitbewerbers beeinflussen oder ihn u¨ber das
beabsichtigte Marktverhalten des Informierenden in Kenntnis
setzen kann und dabei konkret geeignet ist, Wettbewerbs-
parameter entstehen zu lassen, die nicht den normalen
Marktbedingungen entsprechen
81
.
Dies ha¨ngt insbesondere
von Art und Aktualita¨t der ausgetauschten Daten, der Ha¨u-
figkeit der Mitteilungen und dem Konzentrationsgrad des be-
troffenen Marktes ab
82
.
Bedenklich ist in aller Regel ein Aus-
tausch individualisierter, aktueller und marktsensibler Da-
ten
83
.
Im Rahmen der Libor-Absprachen kommt es infolge-
dessen darauf an, wie aktuell, konkret, umfassend und sensi-
bel die ausgetauschten Informationen waren. Dies ist zurzeit
noch nicht o¨ffentlich bekannt.
d) Spu¨rbarkeit
Bejaht man eine bezweckte Wettbewerbsbeschra¨nkung, so ist
eine Pru¨fung ihrer Wirkungen entbehrlich. Auch das Spu¨r-
barkeitskriterium spielt dann nach Auffassung des EuG keine
Rolle
84
.
Ha¨lt man hingegen den Nachweis einer spu¨rbaren
70
Vgl.
de Bronnett
,
in: Schulte/Just, Kartellrecht, 2012, Art. 101 Rdn. 72.
71
Na¨her
Bunte
,
a.a.O. (Fn. 59), Art. 81 EG Rdn. 50, 52 ff., 81 f.;
Emmerich
,
a.a.O. (Fn. 58), Art. 101 Rdn. 107 ff.
72
Bunte
,
a.a.O. (Fn. 59), Art. 81 EG Rdn. 64; zum verabredeten Boykott
Geh-
ring
,
a.a.O. (Fn. 59), 3. Kap. Rdn. 15; EuGH-Urteil vom 26. 11. 1975 –
Rs. 73/74, Groupement des fabricants de papiers/Kommission, „Belgische
Tapeten“, EuGHE 1975 S. 1491, Rdn. 15-21.
73
Vgl.
Bunte
,
a.a.O. (Fn. 59), Art. 81 EG Rdn. 64; zum verabredeten Boykott
Gehring
,
a.a.O. (Fn. 59), 3. Kap. Rdn. 15; EuGH-Urteil vom 26. 11. 1975 –
Rs. 73/74, Groupement des fabricants de papiers/Kommission, „Belgische
Tapeten“, EuGHE 1975 S. 1491, Rdn. 15-21.
74
Fu¨r dieses Versta¨ndnis der drei Tatbestandsvarianten in Art. 101 Abs. 1 AEUV
Emmerich
,
a.a.O. (Fn. 58), Art. 101 Rdn. 106, 118.
75
Fu¨r diese Begriffsbildung
Bunte
,
a.a.O. (Fn. 59), Art. 81 Rdn. 79.
76
A.a.O. (Fn. 21).
77
Vgl. Europa¨ische Kommission, Leitlinien zur Anwendbarkeit von Art. 101
AEUV auf Vereinbarungen u¨ber horizontale Zusammenarbeit (Horizontalleit-
linien), ABlEU Nr. C 11 S. 1 – 71, Rdn. 56;
Emmerich
,
a.a.O. (Fn. 58),
Art. 101 Rdn. 267 ff.
78
Vgl. Europa¨ische Kommission, a.a.O. (Fn. 77), Rdn. 56.
79
Vgl.
Gehring
,
a.a.O. (Fn. 59), 3. Kap. Rdn. 21 a. E., S. 151.
80
Vgl.
Emmerich
,
a.a.O. (Fn. 58), Art. 101 Rdn. 267.
81
Vgl. etwa EuGH, Rs. C-8/08, T-Mobile Netherlands u. a./Nederlandse Mede-
lingsautoriteit, EuGHE 2009 S. I-4529 Rdn. 33; Rs. C-238/05, Asnef-Equi-
fax/Ausbanc, EuGHE 2006 S. I-11125, Rdn. 54.
82
Vgl. EuGH, Rs. C-238/05, a.a.O. (Fn. 81), Rdn. 54, 58.
83
Vgl.
Wollmann/Schedl
,
in: Mu¨nchKomm-EU-WettbewerbsR, 2007, Art. 81
Rdn. 215 f.
84
Vgl. EuG, verb. Rs. T-67 bis T-68/00, T-71/00, T-78/00, JFE Engineering
Corp. u. a./ Kommission, EuGHE 2004 S. II-2501, Rdn. 384; EuG, verb.
Rs. T-49 bis T-51/02, Luxemburgischer Biermarkt, EuGHE 2005 S. II-3033,
Rdn. 140 f.
DER BETRIEB | Nr. 45 | 9. 11. 2012
Wirtschaftsrecht
2567