Auslegung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (ULLA):
Keine Anzeigepflicht bei unabha¨ngig vom Willen der Versiche-
rungsnehmerin eingetretener Gefahrerho¨hung
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I
a)
Es kann hier dahinstehen, ob – wie das Berufungsgericht
meint – durch den Beherrschungswechsel eine Gefahrerho¨hung
eingetreten ist
1
,
denn selbst wenn dies hier angenommen wird,
enthalten die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Be-
klagten abschließende Regelungen, die – weil sie fu¨r die Ver-
sicherungsnehmerin gu¨nstiger sind als die gesetzlichen Bestim-
mungen – fu¨r einen Ru¨ckgriff auf die §§ 27, 28 VVG a. F. kei-
nen Raum lassen. Eine um Versta¨ndnis bemu¨hte Versicherungs-
nehmerin entnimmt den Nrn. 9.2.1 und 9.2.2 der ULLA, dass
sie fu¨r die nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hier al-
lein in Betracht kommende nicht veranlasste – d. h. unabha¨ngig
vom Willen der Versicherungsnehmerin eingetretene – Gefahr-
erho¨hung keine Anzeigepflicht i. S. der §§ 27, 28 VVG a. F.
trifft.
Gem. Nr. 9.2.1 ULLA Anzeigepflicht bei veranlassten Gefahr-
erho¨hungen nur „auf Befragen“
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I
b)
Nr. 9.2.1 ULLA regelt die Anzeigepflichten der Ver-
sicherungsnehmerin. Bereits diese Regelung, die sich allein auf
veranlasste Gefahrerho¨hungen bezieht, wie der Hinweis in
Nr. 9.2.1 Abs. 3 auf „verursachte Gefahrerho¨hungen“ zeigt, ent-
ha¨lt eine gegenu¨ber den §§ 27, 28 VVG a. F. fu¨r die Versiche-
rungsnehmerin gu¨nstigere Regelung von Anzeigepflichten wa¨h-
rend der Vertragslaufzeit. Nach Nr. 9.2.1 Abs. 2 ist die Ver-
sicherungsnehmerin verpflichtet, dem Versicherer unverzu¨glich
die nach Vertragsschluss eintretenden, die u¨bernommene Gefahr
erho¨henden Umsta¨nde „auf Befragen“ des Versicherers mitzutei-
len. Eine Verpflichtung der Versicherungsnehmerin, die Beklag-
te u¨ber alle nach Vertragsschluss eintretenden gefahrerho¨henden
Umsta¨nde in Kenntnis zu setzen, besteht damit erst nach Erhalt
einer Aufforderung des Versicherers. Erst dann hat sie Mittei-
lung daru¨ber zu machen, ob und welche A¨ nderung in dem ver-
sicherten Risiko gegenu¨ber den zum Zwecke der Beitragsbemes-
sung gemachten Angaben eingetreten ist. Diese Regelung stellt
gegenu¨ber den gesetzlichen Vorschriften eine begu¨nstigende
Abweichung dar, die einen Ru¨ckgriff auf die §§ 23 ff. VVG
a. F. ausschließt
2
.
Bei veranlassten Gefahrerho¨hungen, die nach
Vertragsschluss eintreten, besteht mithin eine Anzeigepflicht
nur „auf Befragen“.
Kein Ru¨ckgriff auf die §§ 27, 28 VVG a. F. bei der nicht ver-
anlassten Gefahrerho¨hung
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I
c)
Mit Ru¨cksicht hierauf scheidet auch bei der – nach den
Feststellungen des Berufungsgerichts hier allein in Betracht
kommenden – nicht veranlassten Gefahrerho¨hung ein Ru¨ckgriff
auf die §§ 27, 28 VVG a. F. aus.
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I
Die nicht veranlasste Gefahrerho¨hung wird nur bei den
Rechtsfolgen in Nr. 9.2.2 a) Abs. 2 ULLA genannt. Danach
steht dem Versicherer fu¨r den Fall, dass nach Abschluss des Ver-
sicherungsvertrages eine Gefahrerho¨hung unabha¨ngig vom Wil-
len der Versicherungsnehmerin eintritt, ein Ku¨ndigungsrecht
mit einmonatiger Ku¨ndigungsfrist zu. Eine Anzeigepflicht der
Versicherungsnehmerin ist hier nicht erwa¨hnt.
Kein strengerer Maßstab bei einer nicht veranlassten Gefahr-
erho¨hung
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I
Da es sich bei der in Nr. 9.2.1. ULLA vorgesehenen Anzei-
gepflicht „auf Befragen“ um eine Erleichterung gegenu¨ber den
gesetzlichen Vorschriften handelt und diese fu¨r veranlasste Ge-
fahrerho¨hungen gilt, muss eine um Versta¨ndnis bemu¨hte Ver-
sicherungsnehmerin nicht damit rechnen, dass im Fall einer
nicht veranlassten Gefahrerho¨hung ein strengerer Maßstab gilt,
na¨mlich eine Anzeigepflicht ohne Befragen unter Ru¨ckgriff auf
die gesetzlichen Vorschriften besteht: Wenn es schon bei einer
veranlassten Gefahrerho¨hung eine Anzeigepflicht nur auf Befra-
gen gibt, so kann bei einer nicht veranlassten Gefahrerho¨hung
kein strengerer Maßstab gelten. In dieser Auffassung wird die
Versicherungsnehmerin durch die in Nr. 9.2.2 enthaltene Ku¨n-
digungsregelung besta¨rkt werden, die bei einer nicht veranlassten
Gefahrerho¨hung eine weniger gravierende Rechtsfolge vorsieht.
Die Versicherungsnehmerin entnimmt als Rechtsfolge einer An-
zeigepflichtverletzung bei der veranlassten Gefahrerho¨hung nach
Nr. 9.2.1 Abs. 2 der Nr. 9.2.2 a) Abs. 1 ULLA die Mo¨glich-
keit der fristlosen Ku¨ndigung des Versicherers. Der Nr. 9.2.2 a)
Abs. 2 ULLA, die fu¨r die nicht veranlasste Gefahrerho¨hung
gilt, entnimmt sie hingegen – wie erwa¨hnt –, dass der Versiche-
rer nicht fristlos, sondern nur mit einer Ku¨ndigungsfrist von
einem Monat ku¨ndigen kann. Die Ku¨ndigungsmo¨glichkeit
ist damit gegenu¨ber der veranlassten Gefahrerho¨hung einge-
schra¨nkt. Ein Ru¨ckgriff auf die gegenu¨ber den Regelungen der
ULLA strengeren gesetzlichen Vorschriften ist bei dieser Aus-
gestaltung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen der
Beklagten fu¨r eine versta¨ndige Versicherungsnehmerin nicht zu
erwarten.
Unwirksamkeit der Klausel betreffend das Erlo¨schen des
Versicherungsschutzes bei Liquidation oder mit Beginn eines
neuen Beherrschungsverha¨ltnisses
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I
III.
Die angefochtene Entscheidung erweist sich auch nicht
aus anderen Gru¨nden als richtig. Die Beklagte ist nicht nach
Nr. 11.2 Abs. 3 ihrer Allgemeinen Versicherungsbedingungen
von ihrer Leistungspflicht freigeworden. Danach erlischt der
Versicherungsschutz mit Abschluss der Liquidation oder mit
Beginn des neuen Beherrschungsverha¨ltnisses automatisch,
wenn die Versicherungsnehmerin selbst freiwillig liquidiert oder
neu beherrscht wird. Diese Klausel ist unwirksam. Sie weicht
nach § 34a VVG a. F. zum Nachteil der versicherten Personen
von den gesetzlichen Regelungen ab. Die gesetzlichen Vorschrif-
ten der §§ 23 ff. VVG a. F. gewa¨hren dem Versicherer, der sich
wegen einer Gefahrerho¨hung vom Vertrag lo¨sen will, lediglich
ein an bestimmte Fristen gebundenes Gestaltungsrecht, sie se-
hen aber kein automatisches Entfallen sa¨mtlicher Vertragsbin-
dungen vor
3
,
der Versicherungsschutz endet im Fall eines Kon-
trollwechsels in keinem Fall abrupt.
Zuru¨ckverweisung an das OLG
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I
IV.
Die Sache ist noch nicht entscheidungsreif. Das Beru-
fungsgericht wird im Hinblick auf Nr. 4.1 und Nr. 4.5 ULLA
zu kla¨ren haben, ob der Kla¨ger zum damaligen Zeitpunkt einen
Rechtsanwalt beauftragen durfte, und ggf. wird es dann die Ho¨-
he der Honorarforderung zu pru¨fen haben.
1
Zur Gefahrerho¨hung Senatsurteil vom 11. 12. 1980 – IVa ZR 18/80, BGHZ 79
S. 156 (159) = DB 1981 S. 741; vom 6. 6. 1990 – IV ZR 142/89, VersR 1990
S. 881 (882) und vom 5. 5. 2004 – IV ZR 183/03, VersR 2004 S. 895 (896);
bei der D&O-Versicherung z. B.
Ihlas
,
in: Mu¨nchKomm-VVG, §§ 100–191 D&O
Rdn. 188;
Lange
,
AG 2005 S. 459 (464 f.);
Voit
,
in: Pro¨lss/Martin, VVG,
28.
Aufl., AVB-AVG Nr. 7 Rdn. 3.
2
Koch
,
GmbHR 2004 S. 288 (296).
3
Lange
,
AG 2005 S. 459 (466 f.), m. w. N.
DER BETRIEB | Nr. 45 | 9. 11. 2012
Wirtschaftsrecht
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