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ein schönstes Erleb-
nis aber war nicht in
Hamburg, sondern
ganz woanders. Und
das lag nicht nur am Gegner.
Schon bei der Auslosung
des
Sechzehntelfinales dachte ich
wie viele: „Alles klar, das war‘s
dann wohl!“ Schwerer hätte es
nicht kommen können, der AC
Mailand hatte Stars wie David
Beckham, Paolo Maldini und
Andrea Pirlo! Die waren zwar
schon ein bisschen gealtert, aber
immerhin hatten viele von ih-
nen keine zwei Jahre zuvor die
Champions League gewonnen,
und da waren die ersten grauen
Haare schon zu sehen.
Werder war also
klarer Außensei-
ter und nach dem 1:1 zu Hause
im Hinspiel hatte sich die Aus-
gangslage nicht unbedingt ver-
bessert. Das Rückspiel im Gius-
eppe-Meazza-Stadion sollte aber
ein denkwürdiger Abend werden.
Es war eine Sternstunde Werders.
Und eine Sternstunde des Radios.
Weil sich kein Fernsehsender die
Übertragungsrechte leisten woll-
te, schauten die Fans in die Röhre.
Sie sahen es nicht, sie hörten das
Spiel, die kompletten 90 Minuten.
Kurz vor dem Anpfiff
war Klaus
Allofs bei uns oben auf der Tri-
büne und gab im Live-Interview
einen Tipp ab: „Ich möchte es
eigentlich nicht so spannend ha-
ben, aber ich glaube, dass es 2:2
ausgeht...“ Bevor es losging, gab
es noch eine Schweigeminute für
die verstorbene Schwester von
Milan-Boss Silvio Berlusconi. Und
ehrlich gesagt wurde es im Laufe
des Abends nur selten viel lauter.
Gerade mal 23.000 Fans waren
gekommen, das riesige und be-
eindruckende Stadion war nur zu
einem Drittel gefüllt. Die erfolgs-
verwöhnten Tifosi hatten einfach
keine Lust auf den UEFA-Cup.
Werder spielte gut,
war besser.
Aber Mailand ging in Führung,
erst 1:0, dann 2:0. „Das darf
nicht wahr sein“, war der Kom-
mentar von uns im Radio. „Das
ist völlig unverdient!“ Es klang
wie eine billige Floskel, aber:
„Werder ist hier nicht chancen-
los, da geht noch was“, war un-
ser Halbzeitfazit. Ehrlich gesagt
glaubte ich nicht mehr daran, so
eine Star-Mannschaft wie die
von Milan würde so ein Spiel
nicht mehr hergeben, dachte ich.
Aber wir wollten die vielen Hö-
rer bei Laune halten. Es muss ein
lustiges Bild gewesen sein auf der
Tribüne: Alle sechs mitgereisten
Radioreporter saßen nebeneinan-
der, hatten die Kopfhörer auf und
ein Mikrofon in der Hand.
Dann die 68. Minute:
„Diego, jetzt
eine gefährliche Flanke, und der
Anschlusstreffer ist da. Die Flan-
ke kommt, Kopfball Pizarro und
Toor!“ Werder war wieder im
Spiel. Die Tifosi pfiffen ihre ei-
gene Mannschaft aus, und allen
war klar, dass der Abend eine
sensationelle Wende nehmen
kann, nehmen wird. Zehn Mi-
nuten später: „Ich glaube nicht,
dass es hier in den letzten Jahren
so ein Power-Play einer Gast-
mannschaft gegeben hat. Wieder
kommt die Flanke! Pizarro... Too-
oooooor!“ Da war der Ausgleich.
Das 2:2 reichte Werder, aber die
letzten zehn Minuten kamen
mir ewig lang vor, weil Milan
plötzlich doch wieder mitspielte.
Ich dachte an Klaus Allofs, der
es eigentlich nicht so spannend
haben wollte und an die vielen
Tausend Hörer, die zu Hause sa-
ßen, im Auto oder gar in Kneipen
beim ‚Public Listening‘. Das gab
es wirklich: Da saßen zig Leute
in einer Gaststätte, starrten nicht
auf eine Leinwand, sondern wa-
ren ganz ruhig und lauschten ge-
meinsam den Schilderungen im
Radio. So wie früher.
Die letzte Aktion
des Spiels be-
gann mit einem Eckball von
David Beckham von links. „Die
Bremer köpfen den Ball aus dem
Strafraum, noch mal der Versuch
der Mailänder, und aus! Schluss!
Werder hat es geschafft, das
Wunder von Mailand.“ Es war
das Ende eines unvergessenen
Abends und der Beginn eines un-
vergessenen Bremer UEFA-Cup-
Frühjahrs. Und wir vom Radio
waren immer dabei.
Moritz Cassalette
Sternstunde
Claudio Pizarro
(kl. Foto, Mitte,
mit Mesut Özil
und Markus
Rosenberg) ließ
Werder mit sei-
nen Treffern in
Mailand jubeln.
MORITZ
CASSALETTE
wurde 1983 in Bremen gebo-
ren. Er ist Sportreporter bei
NDR2 und berichtet live für
den ARD-Hörfunk aus den Fuß-
ball-Stadien und vom Radsport.
Davor war er bei Hit-Radio
Antenne. Er begleitet Werder
seit 2004.
Das Wunder von
Mailand
Wer an den
UEFA-Cup im Frühjahr 2009
denkt, der erinnert sich wohl vor
allem an die Halbfinal-Spiele gegen
den HSV.
Fotos: Getty Images
WERDER MAGAZIN 305 79
WERDER-ERINNERUNGEN