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obere Kronenblock auch gelockert und darüberhinaus die

Brücke unten, namentlich der mittlere Schneidezahn unten

(31 als Bestandteil der Brücke 43–33) beschädigt war.

Die Aufklärung hinsichtlich der Allgemeinnarkose erfolgte

sachgemäß. In dem vom Patienten unterschriebenen For-

mulartext ist ein ausdrücklicher Hinweis auf mögliche

Zahn- und Stimmbandläsionen angeführt. Die Voruntersu-

chung hatte keinen Hinweis auf eine erschwerte Intubation

ergeben. Eine Vornarkose war problemlos abgelaufen. Beim

Intubationsversuch lag eine eingeschränkte Mundöffnung

vor. Atemschwierigkeiten bestanden nicht. Ein dringliches

Vorgehen wie zum Beispiel bei plötzlichem Erbrechen war

nicht erforderlich. Der Intubationsversuch erfolgte kürzer

als 3 bis 5 Minuten nach Injektion der zur Muskelentspan-

nung notwendigen Medikamente. Deren Dosierung war

grenzwertig niedrig.

Gutachtliche Beurteilung

Zu Zahnschäden im Rahmen einer Anästhesie kommt es

größenordnungsmäßig bei etwa 1:4.500 Narkosen. Dies ist

aufklärungspflichtig. Hinweise auf ein erhöhtes Risiko sind

vor allem anamnestische Intubationsprobleme, schlechter

Zahnstatus, mangelnde Nüchternheit (schnelles Sichern

der Atemwege bei Aspirationsgefahr) sowie eine Reihe ana-

tomischer Besonderheiten (verringerte Mundöffnung, Ma-

kroglossie, Zahnanomalien, Reklinationseinschränkung,

mangelnde Einsehbarkeit des Oro-Pharynx).

Im Schreiben des beschuldigten Arztes wird, (erstmalig)

und ex post gutachtlich nicht nachvollziehbar, eine einge-

schränkte Mundöffnung erwähnt. Eine (fixierte) einge-

schränkte Mundöffnung hätte initial ein anderes Vorgehen

erfordert, namentlich eine fiberoptische Intubation ohne

Intubationsspatel. Die eingeschränkte Mundöffnung war

entweder auf eine suboptimale Kopflagerung oder auf eine

ungenügende Muskelrelaxation bei der Intubation zurück-

zuführen.

Eine ungenügende Relaxation als Ursache der eingeschränk-

ten Mundöffnung lässt sich aus der für den 95 kg schweren

Patienten grenzwertig niedrigen Gabe des initial injizierten

Relaxans und einer besonders schnell versuchten Intubati-

on ableiten.

Ausweislich des Narkoseprotokolls erfolgte der Intubations-

versuch kürzer als 3 bis 5 Minuten nach Injektion der zur

Muskelentspannung notwendigen Medikamente (vor vol-

lem Eintritt der Relaxanswirkung). Deren Dosierung war

für den 95 kg schweren Patienten mit 8 mg eines kompetiti-

ven Relaxans (Pancuronium?, Vecuronium? initiale Dosis

0,08–0,15(+) mg/kg KG grenzwertig. Gerade weil die zu

geringe und zu knapp vor Intubation erfolgte Relaxation

differenzialdiagnostisch immer als Ursache schwieriger

Laryngoskopie zu erwägen ist, hätte die Intubation vor einer

Zeitspanne von 3 bis 5 Minuten nach Injektion nicht vorge-

nommen werden dürfen. Es bestand keine Dringlichkeit.

Der Patient wäre bis zum Eintritt der Maximalwirkung des

Relaxans problemlos mit der Maske zu beatmen gewesen.

Aufgrund der Angaben „2/6mg“ für das Relaxans im Narko-

seprotokoll ist anzunehmen, dass hier eine so genannte

priming dose zur Ermöglichung einer besonders schnellen

Intubation, typischerweise nach einer Minute, eingesetzt

wurde (Wirkmaximum ansonsten nach 3 bis 4 Minuten). Ei-

ne derartige Anwendung ist unsicher in Bezug auf die ange-

strebte Wirkung und hat, zusammen mit der grenzwertig

niedrigen Dosierung, mit sehr hoherWahrscheinlichkeit zu

den suboptimalen Intubationsverhältnissen geführt, in de-

ren Folge dann beim Versuch, die „mangelnde Mundöff-

nung“ mit Kraft zu überwinden, die Zahnschäden aufgetre-

ten sind.

Wenn die Mundöffnung und/oder die Sicht auf den Kehl-

kopf nicht hinreichend war, hätten der Dosis-Wirkungs-

Mechanismus und sein zeitlicher Ablauf berücksichtigt

werden müssen, das heißt unter auch weiterer Vertiefung

der Narkose abgewartet werden müssen, bis eine bessere

Einstellbarkeit des Kehlkopfes gegeben gewesen wäre, und/

oder ein anderes Hilfsmittel zur Intubation eingesetzt wer-

den müssen.

Der Zahnschaden war deshalb Folge eines vermeidbaren

Behandlungsfehlers.

Fall 2

Der Sachverhalt

Bei dem 51-jährigen, extrem fettleibigen (BMI 45), an Zu-

ckerkrankheit, Bluthochdruck und chronisch obstruktiver

Bronchitis leidenden, geistig behinderten Patienten wurde

zur Operation einer infizierten bursitis olecrani die An-

ästhesie zur Operation als Intubationsnarkose durchge-

führt. Eine Lokalanästhesie habe sich wegen der Infektion

verboten, eine Plexusanästhesie sei wegen der Fettleibigkeit

technisch schwierig gewesen, und mit Maske habe der Pa-

tient sich nicht ausreichend beatmen lassen.

Da es nach der Extubation zu einer Verlegung der Atemwe-

ge durch eine große, zurückgefallene Zunge und zu einem

Abfall der Sauerstoffsättigung auf 80 Prozent kam, habe

man den Zungengrund mittels eines Laryngoskops (unter

Vermeidung einer nochmaligen Intubation) angehoben und

Sauerstoff direkt in den Schlund insuffliert. In der Einlas-

sung des beschuldigten Anästhesisten heißt es hierzu wört-

lich: „Der Patient zeigt auch unter der Laryngoskopie

weiterhin kräftige Abwehrbewegungen, tolerierte jedoch

letztlich die Maßnahme“. Nachdem der Oberkörper des

Patienten in weiter aufrechte Position verbracht worden

war, habe das zur Hebung des Zungengrunds eingebrachte

Laryngoskop wieder entfernt werden können.

Postoperativ vermisste der Patient seine Zahnprothese.

Röntgenologisch ergab sich kein Anhalt dafür, dass die Pro-

these verschluckt oder eingeatmet worden war. Die Prothe-

se wurde nicht mehr gefunden.

Bei einer nachfolgenden Untersuchung in einer Klinik für

Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie wurde bei dem Pa -

tienten eine circa 1,5 cm lange Schleimhautverletzung mit

freiliegendem Knochen am Unterkieferkörper rechts vorge-

funden, des Weiteren zwei abgebrochene Zahnstümpfe 44

und 45, die laut Hauszahnarzt mit Kronen versorgt gewesen

waren.

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Gutachtliche Entscheidungen

Haftung für Zahnschädigung durch Anästhesie