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Im Krankenblatt wurde vermerkt: „Morgen Wehentropf

oder Prostaglandin E2 je nach Befund, Verdacht auf Miss-

verhältnis, Fetometrie morgen.“ Die vorgesehene Feto-

metrie fand nicht statt.

Am 1. Februar um 00:15 Uhr meldete sich die Patientin mit

Fruchtwasserabgang und leichten Wehen. Die Mutter-

mundsweite betrug 1 cm, der Höhenstand des Kopfes –5. Bei

allmählichemGeburtsfortschritt war um 04:05 Uhr derMut-

termund vier bis fünf Zentimeter weit, der Kopf –5. Es wur-

de eine Periduralanästhesie (PDA) angelegt, die um 06:05

Uhr erneuert wurde. Um 05:25 Uhr war der Muttermund bis

auf Saum vorne vollständig eröffnet, Höhenstand des Kop-

fes –1. Um 06:30 Uhr wird der Höhenstand des Kopfes mit

–1 beschrieben, um 07:20 Uhr mit K +1/+2. Im Krankenblatt

wurde vermerkt: „Bei Makrosomie K +1/+2 Indikation zum

Forceps, auf Oberarzt B. warten.“

Vaginale Geburt

Um 09:05 Uhr wurde eingetragen: „Stand des Kopfes

K +1/+2, großer Kopf, ausklingende 2. PDA, Indikation zum

Forceps gegeben.“ Eintrag um 09:12 Uhr: „Geburt eines

lebensfrischen reifen Knaben aus hinterer Hinterhauptslage

durch Forceps nach mediolateraler Episiotomie. Wehen-

tropf läuft ein.“ Ein Bericht über die Vaginalgeburt fehlt.

Das Kindsgewicht betrug 4.900 g, die Länge 55 cm, Apgar-

wert 9/10/10, das Narbelarterien–pH 7,36.

Post partum wurde bei dem Kind eine Plexuslähmung vom

Typ Erb festgestellt. Bei der Mutter fand sich eine Sym-

physenlösung, die erhebliche Beschwerden verursachte.

Auf der Beckenübersichtsaufnahme vom 3. Februar klafft

die Schambeinfuge um 2,6 cm.

Gutachtliche Beurteilung

Die Gutachterkommission, fachsachverständig beraten, hat

den Sachverhalt unter den folgenden Gesichtspunkten beur-

teilt:

1.War bei der Entbindung mit einem makrosomen Kind zu

rechnen?

2.Wenn ja, hätte die Schwangere über das Risiko der

vaginalen Entbindung aufgeklärt werden müssen?

3. Sind die Erb’sche Plexuslähmung des Kindes und die

Symphysenlockerung der Mutter auf die vaginale Ent-

bindung zur Operation durch Zange zurückzuführen?

Zu den aufgeworfenen Fragen wurde wie folgt Stellung ge-

nommen:

Zu 1.:

Nach dem Geburtsgewicht (4.900 g) handelte es sich um ein

makrosomes Kind. Es gab schon in der Schwangerschaft eine

Reihe von Hinweiszeichen, dass mit einem übergewichtigen

Kind zu rechnen war. Am 22. Dezember war ein fetales Ge-

wicht von 2.700 g geschätzt worden. Da das Normgewicht

für diese Tragezeit etwa 2.390 g beträgt, ergab sich ein Über-

gewicht von 13 Prozent. Aus der Biometrie am 7. Januar

errechnete sich ein fetales Gewicht von 3.600 g, das um

16 Prozent höher lag als das Normalgewicht von 3.090 g für

diese Tragezeit.

Das ist zu diesem Zeitpunkt auch erkannt worden, wie der

Vermerk in den Krankenunterlagen (großes Kind -› Sectio)

zeigt. Bei der Krankenhausaufnahme am 31. Januar ist der

„Verdacht auf Missverhältnis“ ausdrücklich vermerkt. Die

dringend erforderliche – auch nach den Unterlagen vorgese-

hene – erneute Fetometrie unterblieb. Darin sah die Gutach-

terkommission einen vorwerfbaren Behandlungsfehler.

Zu 2.:

Da nach allem, spätestens am 31. Januar, mit einem makro-

somen Kind zu rechnen war, musste die Patientin über das

damit verbundene erheblich erhöhte Risiko im Falle einer

vaginalen Entbindung aufgeklärt und zugleich die Frage ei-

ner Schnittentbindung im Einzelnen mit ihr erörtert wer-

den.Das ist nicht geschehen.Die Patientin wurde in die Ent-

scheidungsfindung nicht einbezogen und damit ohne ihre

wirksame Einwilligung vaginal entbunden.

Zu 3.:

Plexuslähmungen finden sich nach Angaben in der Litera-

tur bei etwa 0,15 Prozent aller Geburten. Bei etwa der Hälf-

te aller Fälle bestand eine Schulterdystokie. Die höchste Ra-

te findet sich bei der vaginal operativen Geburt makrosomer

Kinder. Ursache der Plexusschädigung bei der Schulterdys-

tokie, aber auch bei der Entbindung übergewichtiger Kinder

ohne Schulterdystokie ist zumeist der starke Zug am kind-

lichen Kopf mit der Folge der Dehnung des cervikalen Ner-

venplexus.Als seltene Ursache kommt auch die intrauterine

(vor der Geburt) entstandene Lähmung des cervikalen

Plexus in Frage.

Im vorliegenden Fall handelte es sich um ein makrosomes

Kind mit einem Geburtsgewicht von 4.900 g; 550 g oder 13

Prozent über der 95. Perzentile bzw. 1.300 g oder 36 Prozent

über dem normalen Geburtsgewicht.

Die vorgenommene Zangenextraktion vom Beckenboden

bei hinterer Hinterhauptslage belastete das Vorgehen zu-

sätzlich. Bei dieser Einstellungsanomalie liegt der Rücken

des Kindes nicht vorne wie bei der – normalen – vorderen

Hinterhauptslage, sondern hinten. Das Kind wird so nicht

durch eine Streckung des gebeugten Kopfes, sondern durch

eine weitere Beugung des Kopfes geboren.

Für eine Schulterdystokie hat der Fachsachverständige kei-

ne Anhaltspunkte feststellen können. Gleiches gilt für die

Frage, ob die Zangenentbindung etwa fehlerhaft durchge-

führt wurde und ob die Entwicklung der Schulter Schwie-

rigkeiten bereitet hat.Die Beurteilung wird durch das Fehlen

des Operationsberichtes erschwert.

Nach der Geburt wurde bei der Patientin ein Symphysen-

schaden mit erheblichen Beschwerden festgestellt. Ein Kau-

salzusammenhang zur Zangenentbindung ist nicht ohne

Weiteres anzunehmen.Als Ursache kommen auch die in der

Schwangerschaft bestehenden östrogenbedingten Gewebs-

auflockerungen und Bindegewebsschäden in Betracht.

Gutachtliche Entscheidungen

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Risikofaktor Makrosomie des Kindes