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Aus dem fehlenden Hinweis in den Mutterschaftsrichtlinien

schloss die Gutachterkommission, dass dem Gynäkologen

kein eindeutiger Fehlervorwurf gemacht werden kann. Da-

rüber hinaus war aus den Behandlungsunterlagen nicht er-

sichtlich, wie deutlich die Antragstellerin mit ihrem Arzt

auch in zeitlicher Hinsicht über ihren Kinderwunsch ge-

sprochen hatte. Ebenso wenig war klar, ab wann sie aus ei-

genem Antrieb Folsäure genommen hatte. Vor allem aber

konnte wegen der verbleibenden 30 Prozent trotz korrekter

Folsäuresubstitution zu beobachtender Fehlbildungen die

Ursächlichkeit des Versäumnisses für den Schaden nicht

festgestellt werden.

In Übereinstimmung mit der gynäkologischen Literatur ist

die Verabreichung von Folsäure bei Kinderwunsch schon

vor Beginn der Schwangerschaft dringend zu empfehlen,

auch wenn die Gabe von Folsäure ohne Indikation keine

GKV-Leistung darstellt.

Immerhin ist erwiesen,dass die Einnahme von 0,4–0,8 mg

Folsäure pro Tag, beginnend vor der Konzeption und

während der ersten Wochen der Schwangerschaft, das

Risiko von Neuralrohrdefekten erheblich zu senken ver-

mag [3].

Die sonographischen Untersuchungen des Frauenarztes

Zu diesen Untersuchungen stellt das Sachverständigengut-

achten fest, dass der direkte Nachweis einer Spina bifida

aperta nur selten gelingt, in der Regel erst bei gezielter Suche

auf Grund indirekter Hinweiszeichen. In dem hier durch-

geführten allgemeinen Screening (entsprechend DEGUM I)

werden nur 10 bis 50 Prozent der Fälle vor der 24. Schwan-

gerschaftswoche diagnostiziert, wobei die Mehrzahl der

Fälle später oder nach der Geburt erkannt werden.

Der Nachweis ungenügender Untersuchungen war hier da-

durch erschwert, dass die Aufnahmen offenbar der Entbin-

dungsklinik übersandt und möglicherweise dort verloren

gegangen waren. Da nicht nachzuweisen war, dass Anzei-

chen für eine Entwicklungsstörung und damit ein Grund

zur Überweisung an ein Zentrum für pränatale Diagnostik

mit hoch auflösenden Ultraschallgeräten bestanden hat,

war auch insoweit ein Behandlungsfehlervorwurf nicht be-

gründet.

Ungenügende Differenzialdiagnostik bei

Toxoplasmoseinfektion der Mutter?

Die Antragstellerin hatte am 18. Juni (9.+1 SSW) den Arzt

über einen anderweitig eingeholten Toxoplasmoseantikör-

persuchtest informiert. Dessen Ergebnis lautete: „Mit sehr

hoherWahrscheinlichkeit frische Infektion“.

Am 25. Juni entnahm der Frauenarzt Blut zur Bestimmung

der Toxoplasmoseserologie. Ergebnis: „Befund am ehesten

wie nach mindestens 12 Monaten zurückliegender Toxo -

plasmoseinfekton. In seltenen Fällen kann jedoch ein frühes

Akutstadium vorliegen, das durch Titerkontrolle in circa

10Tagen ausgeschlossen werden kann.“Danach wurde zwi-

schen Patientin und Frauenarzt noch mehrfach über eine

für Ende Juli geplante erneute Toxoplasmoseserologie ge-

sprochen, die aber nie erfolgt ist.

Das Kind wurde nach der Geburt in der Neurochirurgischen

Klinik operiert. Es zeigte bei normotoner Muskulatur der

oberen Extremität zunächst fehlende Muskeleigenreflexe

der unteren Extremität sowie einen negativen Analreflex.

Unter Physiotherapie nach Vojta kam eine zunehmende Ak-

tivität der Beinmuskulatur. Abschließend fand sich leichte

aktive Dorsalextension des linken Fußes und leichte aktive

Extension und Flexion der Kniegelenke beidseits. Die Be-

ckenaufrichtung war über die Bauchmuskulatur möglich.

Ebenso gelang eine Lateralflexion des Rumpfes zu beiden Sei-

ten hin. Im Alter von 3 Monaten wurde eine Toxoplasmose-

serologie entnommen. Darin waren keine IGM-Antikörper

nachweisbar, allerdings fanden sich 123 IE IGG-Antikörper.

Diese Konstellation sprach für diaplazentar übertragene

mütterliche IGG-Antikörper ohne Hinweis auf eine akute

Infektion.

Gutachtliche Beurteilung

Die Gutachterkommission äußerte sich zu den von den El-

tern des Kindes gestellten Fragen:

1. Ob der Frauenarzt bei der Mutter eine frische Toxo-

plasmose in der Frühschwangerschaft übersehen oder un-

genügend abgeklärt und auch dadurch die Fehlbildungen

des Kindes verursacht oder mitverursacht habe.

2. Ob eine sorgfältigere Toxoplasmosediagnostik dazu ge-

führt hätte, dass der Neuralrohrdefekt vor der Geburt er-

kannt worden wäre.

Zu Frage 1: Die Erstinfektion von Toxoplasmose verläuft

meist ohne Symptome und zeigt nur selten charakteristische

Krankheitsverläufe mit Fieber, Müdigkeit und Beschwer-

den. Die Diagnose kann nur serologisch über den Nachweis

von IGM und IGG-Antikörpern gestellt werden.Circa 30 bis

50 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter haben eine

asymptomatische Toxoplasmoseinfektion durchgemacht.

Wichtig ist, dass nur die Toxoplasmoseerstinfektion wäh-

rend der Schwangerschaft zu einer Gefährdung des Kindes

führt; in 50 Prozent der Fälle nach einer Erstinfektion muss

mit einer transplazentaren Infektion des Kindes gerechnet

werden. Dabei sind die fetale Infektionsrate und die fetale

Schädigung mit dem Schwangerschaftsalter zur Zeit der

Erstinfektion verbunden.

Kommt es im ersten Trimenon der Schwangerschaft zu einer

Erstinfektion der Schwangeren, so kann durch pränatale

Diagnostik versucht werden, eine Infektion des Feten auszu-

schließen. Da wegen der widersprechenden Befunde der

beiden Labors nicht von einer frischen Infektion ausgegan-

gen werden kann, muss der Befund des zweiten Labors

(Infektion liegt am ehesten mindestens 12 Monate zurück)

zu Grunde gelegt werden. Diese hat zu einer entsprechen-

den Immunreaktion bei der Mutter geführt und es war in

der Schwangerschaft nicht mit einer intrauterinen Toxo-

plasmoseinfektion des Kindes zu rechnen.

Auch die Überlegung, dass den Antragsgegner wegen der

Unterlassung der von ihm selbst geplanten Serologie der

Vorwurf trifft,einen dringend gebotenen Befund nicht erho-

ben zu haben, führt nicht weiter. Zur Haftung käme man

in diesem Fall nur, wenn mit Wahrscheinlichkeit ein positi-

Gutachtliche Entscheidungen

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Fetale Anomalie – Neuralrohrdefekt