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Behandlungsfehlervorwürfe wegen vermuteter Fehldia-

gnostik und -behandlung bei Erkrankungen, die unter der

Oberdiagnose eines Wirbelsäulensyndroms einzuordnen

sind, werden häufig erhoben. Während es meist weniger

Probleme bereitet, radikuläre Wirbelsäulensyndrome auf-

grund ihrer neurologischen Symptome einzuordnen, kann

dies bei den lokalenWirbelsäulensyndromen und den pseu-

doradikulären Beschwerdebildern sehr viel schwieriger

sein.

Es ist bekannt, dass bei einem hohen Prozentsatz chronisch

gewordener „Rückenleiden“ die Beschwerden keinem be-

stimmten anatomischen Substrat zugeordnet werden kön-

nen, sie also „unspezifisch“ sind. Diagnostische Sorgfalt ist

dann geboten. Sowohl unter dem Erscheinungsbild radiku-

lärer wie lokaler, akuter wie chronischer Wirbelsäulensyn-

drome verbergen sich nämlich mitunter andere Ursachen als

die vermuteten (und dem Behandlungsregime zugrunde ge-

legten) Bandscheibenschäden, Spondylarthrosen (Facetten-

Syndrom), Wirbel- und Rippengelenkblockierungen und

weichteilbedingte (Muskulatur, Bänder etc.) Affektionen.

Wirbelsäulenferne Erkrankungen können eine Ischialgie

vortäuschen.

Die Fachgesellschaften weisen in ihren Leitlinien auf zahl-

reiche differenzialdiagnostische Überlegungen und Unter-

suchungen hin.

Zu den wirbelsäulenfernen Ursachen zählen Erkrankungen

des Hüftgelenkes. Sie werden mitunter nicht nur primär

übersehen und unter der Fehldiagnose eines Wirbelsäulen-

syndroms behandelt, sondern häufiger noch in Fällen, in

denen tatsächlich auch ein Lendenwirbelsäulensyndrom

vorliegt oder bei dem betreffenden Patienten schon früher

behandelt worden ist. Mit einem solchen Fall hatte sich die

Gutachterkommission zu befassen.

Der Sachverhalt

Eine 48-jährige Frau gibt in ihrem Antrag an, sie sei am

28. Mai mit einer Leiter gegen eine Wand gekippt und habe

sich Prellungen an der linken Seite des Rumpfes und des

Oberschenkels zugezogen. Wegen zunehmender Schmer-

zen im Oberschenkel habe sie 6 Tage danach, am 3. Juni,

ihren Hausarzt aufgesucht. Dieser hatte sie zusammen mit

dem Hausorthopäden 6 Wochen zuvor wegen eines Len -

denwirbelsäulen-Syndroms behandelt mit Krankschrei-

bung. Er überweist sie wegen der Beschwerden und der

nun vorhandenen Gehbehinderung unter der Diagnose

Ischialgie wieder zum Orthopäden.

Ambulante Behandlung

Die Patientin sucht am 5. Juni dessen Urlaubsvertreter auf,

der Folgendes dokumentiert: „Seit einigen Tagen Lumbo-

ischialgie links, Zustand nach NpP 1988, nimmt bereits

Gabrilen. Befund: Druckschmerz Kreuzdarmgelenk links

und Foramen ischiadicum links. Spine-Test nicht prüfbar.

Neurologie: Reflexstatus obere und untere Extremität

normgerecht, keine dermatombezogenen Sensibilitätsstö-

rungen, keine Fußheber- und Fußsenkerschwäche, Zehen-

und Fersengang durchführbar, Psoas und Quadriceps o.B.,

keine Glutaealschwäche, Lasegue negativ, keine Blasen- und

Mastdarmstörungen, Funktion beider Hüften symmetrisch

und frei“.

Unter der Diagnose einer „Akuten Lumboischialgie“ erfolg-

te eine Infiltration im Bereich des linken Kreuzdarmbein-

gelenkes und eine Piroxicam-Injektion i. m., ferner wurde

Tetrazepam verordnet. Diese Behandlung wird am 7. Juni

wiederholt, eine leichte Besserung dokumentiert und eine

Überweisung zum Radiologen ausgestellt für ein MRT der

Lendenwirbelsäule.

Am 18. Juni wird der aus dem Urlaub zurückgekehrte Haus-

orthopäde aufgesucht, der von seiner Vertretung unterrich-

tet worden war und unter dem 19. Juni dokumentiert:

„Klagt seit Jahren über rezidivierende Rückenschmerzen.

Im Stehen geringer Beckentiefstand rechts.Weitgehend ge-

raderWirbelsäulenaufbau. Normale Brustkyphose und Len-

denlordose. Beweglichkeit der HWS und LWS endgradig

eingeschränkt. Druckschmerz C4/D1 links und L4/S1 bei-

derseits. Keine neurologischen Ausfälle an den Extremitä-

ten. Lasegue beiderseits negativ. Reflexe seitengleich o. B.“.

Es wurde eine Injektion i. m. gegeben, am 20. Juni ein

Schmerzmittel verordnet und am 21. Juni ein Rollstuhl. Am

25. Juni lag die Befundung des MRT vor mit dem Ergebnis

„Prolaps L4/L5 links“. Es erfolgte die Einweisung in ein

Krankenhaus.

Stationäre Behandlung

Bei der Aufnahme am Folgetag wurde im Krankenhaus no-

tiert: „Seit ca. 5 Wochen Schmerzen tief lumbal mit Aus-

strahlung in das linke Bein, Liegen und Sitzen gut möglich,

Stehen möglich, Laufen nicht möglich. Befund: PSR und

ASR seitengleich lebhaft auslösbar, Lasegue beiderseits ne-

gativ, Fußsenker links in der Kraft gemindert 4/5, Fußheber

links gering gemindert, keine Hypästhesien, keine Paresen,

beide Hüften frei beweglich, Durchblutung peripher o. B.“.

Unter der Diagnose einer Ischialgie bei Bandscheibenvorfall

wurde die Patientin mit bildwandlergesteuerten Infiltratio-

nen, Krankengymnastik und Stangerbädern, Fango und

Massagen vom 26. Juni bis 4. Juli behandelt. Den Pflegepro-

tokollen ist zu entnehmen, dass sie ausschließlich mit dem

Rollstuhl unterwegs war.Die Patientin verließ das Kranken-

haus gegen ärztlichen Rat.

Erneute ambulante Behandlung

Am Folgetag suchte sie eine chirurgisch-orthopädische Pra-

xis auf, wo am 5. Juli dokumentiert wird: „Seit 5 Wochen

Schmerzen linker Oberschenkel. Befund: Bewegungs-

Gutachtliche Entscheidungen

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Diagnoseirrtum: Ischialgie

oder: Der lange Weg zur richtigen Diagnose