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Der Sohn einer 79-jährigen Patientin, selbst Facharzt für

psychosomatische Medizin,hat sich an die Gutachterkommis-

sion für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer

Nordrhein gewandt und um Überprüfung der ärztlichen Be-

handlung seiner Mutter gebeten, weil nach seiner Auffas-

sung massive gesundheitliche Beeinträchtigungen durch ei-

ne Opiatüberdosierung eingetreten seien. Er erwähnt in sei-

nem Schreiben, er habe als Arzt nachdrücklich auf die zu-

nehmende Eintrübung des Bewusstseins seiner Mutter hin-

gewiesen, dies sei aber nicht ernst genommen worden, statt-

dessen sei er harsch in seine Schranken verwiesen worden.

Sachverhalt

Nach einer erfolgreichen Kyphoplastie wurde die 79-jährige

Patientin mit einem anhaltenden Schmerzsyndrom in eine

Geriatrische Klinik zur Rehabilitation verlegt. Zunächst

wurde die niedrig dosierte Fentanyl-Therapie (12 µg/h-Pflas-

ter) fortgesetzt, dann aber wurde zusätzlich das Opiat Oxy-

gesic

®

verordnet, bei Bedarf bis zu 3 x 10 mg/Tag.Unter die-

ser Therapie kam es zu einer zunehmenden Eintrübung,

auf die der Sohn der Patientin in einer ausführlichen E-Mail

an die behandelnden Ärzte hingewiesen hat. Die Fentanyl-

dosis wurde aber sogar bei Fortsetzung der Oxygesicgabe

auf 25 µg/h-Pflaster erhöht.

Einige Tage später kam zu der bereits bestehendenVigilanz-

störung eine deutliche Eintrübung hinzu, die sich bis hin zu

einem komatösen Zustand steigerte. Die Gabe von Naloxon

führte zu kurzzeitigen Vigilanzverbesserungen. Unter dem

Verdacht einer protrahierten Morphin-Intoxikation wurde

die Patientin auf eine Intensivstation verlegt. Zu diesem

Zeitpunkt war die Patientin somnolent, aber aufweckbar,

elementare Kontakte waren möglich. Nach Ausschluss eines

cerebralen Insultes, einer Blutung, einer Raumforderung,

entzündlicher Läsionen oder Liquorzirkulationsstörungen

und nach einem erneut positiven Naloxontest konnte die

Diagnose einer Opiat-Intoxikation gesichert werden. Es

folgten eine internistische Weiterbehandlung sowie eine

geriatrische Rehabilitationsbehandlung. Nach vierwöchiger

stationärer Therapie wurde die Patientin gehfähig mit

einem Rollator entlassen. Sie lebt inzwischen wieder mit

externer Unterstützung in ihrer eigenen Wohnung.

Medizinische Bewertung

An der Diagnose einer Opiat-Intoxikation besteht kein

Zweifel. Offenbar liegt bei der Patientin, die nicht an Opiate

gewöhnt war, eine extreme Überempfindlichkeit auf Opiate

vor, denn es ist keine ungewöhnlich hohe Dosierung verord-

net worden. Möglicherweise spielte bei der hochgradigen

Opiatempfindlichkeit ein Leberschaden eine Rolle.

Bekanntermaßen muss die zur Schmerztherapie erforderli-

che Opiatdosierung individuell empirisch ermittelt werden.

Bei klinischen Zeichen einer Überdosierung ist die Dosis so-

fort zu reduzieren. Dabei muss einschränkend davon ausge-

gangen werden, dass die klinischen Zeichen einer Opiat-

überdosierung nicht immer eindeutig sind. Unter Umstän-

den muss im Zuge der Dosisfindung eine vorübergehende

Opiatüberdosierung hingenommen werden. Dies ist dann

nicht Ausdruck eines Dosierungsfehlers oder einer ärztli-

chen Fehleinschätzung.

Fraglich ist, ob schon in den Tagen, bevor auf Grund der

nicht zu übersehenden Intoxikations-Zeichen alle Opiate

abgesetzt wurden, hätte reagiert werden müssen. Der Chef-

arzt der Geriatrischen Klinik, der die Opiatüberdosierung

nachträglich nicht bezweifelt, meint, die Dosis sei nach kli-

nischer Untersuchung und Schmerzeinschätzung durch die

Patientin selbst angepasst worden, Nebenwirkungen wie

Müdigkeit, Appetitlosigkeit und Apathie seien mit der Pa-

tientin besprochen, dokumentiert und in den Behandlungs-

plan einbezogen wurden. Die Vigilanzstörungen der Patien-

tin im Rahmen der Schmerztherapie, die in den Pflegedoku-

mentationen sehr ausführlich geschildert werden, seien den

Ärzten jederzeit bewusst gewesen. Man habe sich aber wäh-

rend des gesamten Behandlungszeitraums an dem klini-

schen Bild orientiert. Der Chefarzt räumt damit ein, dass es

unter der klinischen Beobachtung zu einer kontinuierlichen

Zunahme der Symptome bis hin zum komatösen Zustand

gekommen ist. Er wendet aber ein, starke Nebenwirkungen

wie Somnolenz, Halluzinationen und damit verbundener

zunehmender Immobilität mit Verlust der Selbsthilfefähig-

keit seien bei der sehr niedrig dosierten Opiattherapie eher

selten zu beobachten.

Gutachterliche Bewertung

Unterschiedliche Wahrnehmungen über den Krankheitszu-

stand oder auch Fehleinschätzungen der Gesamtsituation,

insbesondere auch des Wachzustandes von Patienten, kom-

men im Klinikalltag häufig vor. Eine derartige „Blindheit“

in der Symptomdeutung ist nicht immer als behandlungs-

fehlerhaft zu werten. In einem begrenzten Rahmen sind dia-

gnostische Fehleinschätzungen hinzunehmen.

Es ist jedoch zu beachten, dass der Sohn der Patientin, selbst

Arzt, bereits sechs Tage vor der schließlich erfolgten Opiat-

Unterbrechung den behandelnden Chefarzt schriftlich da-

rauf hingewiesen hat, dass er über die verwaschene Sprache

seiner Mutter erschrocken sei. Nach weiteren zwei Tagen

hat er in einer längeren E-Mail seine Einschätzung der Si-

tuation geschildert und bekräftigt, dass aus seiner Sicht eine

Überdosierung der Schmerztherapie vorliege. Ein solcher

Hinweis hätte bei den behandelnden Ärzten zumindest zu

einer Reflexion über die Angemessenheit der Opiatdosis

führen müssen. Es ist somit unverständlich, warum trotz

eindeutiger Intoxikationszeichen über einen Zeitraum von

vier Tagen die Opiatbehandlung fortgeführt, zwischenzeit-

lich sogar in der Dosis gesteigert worden ist.

Der Gutachter kam zu der Schlussfolgerung, dass es durch

einen ärztlichen Behandlungsfehler zu einer schweren Opiat-

überdosierung gekommen sei, die schließlich eine intensiv-

medizinische Therapie und eine fachinternistische Weiter-

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Gutachtliche Entscheidungen

Grenzen des hinnehmbaren Diagnoseirrtums

Haftungsrechtlich relevanter Diagnoseirrtum