

Gutachtliche Entscheidungen
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Operative Risiken bei Diabetikern
temperaturen septisch, so dass nach einer weiteren Woche
eine Unterschenkelamputation nicht mehr zu umgehenwar.
Danach kam es zum Temperaturabfall und schließlich nach
weiteren vierWochen zur endgültigen Ausheilung.
Gutachtliche Beurteilung
Die Gutachterkommission nahm zum Verhalten des be-
schuldigten niedergelassenen Chirurgen im Wesentlichen
wie folgt Stellung:
Zu beanstanden war zunächst die unzureichende Doku-
mentation, in der jegliche Eintragungen über Befunde fehl-
ten, die eine Operationsindikation stützen konnten. Solche
ergaben sich auch nicht aus der späteren Äußerung des Arz-
tes. Dabei bestand aufgrund des demArzt bekannten Diabe-
tes mellitus Anlass zu größterVorsicht, Sorgfalt und Zurück-
haltung. Eine Indikation zur operativen Behandlung durfte
nur bei zwingender Notwendigkeit eines solchen Eingriffs
und vor allem nach sorgfältiger Feststellung der Blutzucker-
werte bejaht werden, die in den letzten drei bis vier Tagen
vor dem operativen Eingriff und am Operationstag mög-
lichst im oberen Normbereich liegen sollten. Dass diese
Mindestvoraussetzungen vorlagen, konnte die Kommission
nicht feststellen; sie ergaben sich weder aus den Darlegungen
des Arztes und seinen Behandlungsunterlagen noch aus
dem späteren Verlauf.
Der Hinweis des Arztes, dass er durch Tasten der Fußpulse
eine periphere Angiopathie habe ausschließen können,
stützt die Indikation nicht. Die bei Diabetikern generell ge-
gebene Gefahr von Durchblutungsstörungen besteht auch
bei noch erhaltener Blutzufuhr durch die großen Arterien.
Sie beruhen auf der Minderperfusion des Gewebes infolge
der so genannten Mikroangiopathie, bei der die Innenhaut
der kleinen Blutgefäße polsterartig verdickt ist, so dass das
Gewebe nur unzureichend mit Sauerstoff versorgt wird.
Das ohnehin unter Druck stehende Gewebe des Fußbettes
ist besonders gefährdet, erinnert sei an den „diabetischen
Fuß“. Nach allem kam die Kommission zu dem Ergebnis,
dass schon die Indikation für das operative Vorgehen zu ver-
neinen war.
Fehlerhafte Nachsorge
Zu beanstanden war weiter die postoperative Behandlung
durch den Arzt. Auch nach dem operativen Eingriff erfolgte
keine Kontrolle des Blutzuckers, obwohl sie zwingend gebo-
ten ist, um ggf. eine postoperative Entgleisung rechtzeitig
erkennen und behandeln zu können. Versäumt wurde auch
die Kontrolle der Körpertemperatur. Das alles führte zu ver-
meidbarer Verzögerung der sachgerechten Behandlung.
Die Gutachterkommission war zusammenfassend der Auf-
fassung, dass die fehlerhafte Behandlung des beschuldigten
Arztes als ein schwerwiegender (= grober) Behandlungsfeh-
ler zu werten sei, der zu dem vermeidbaren Verlust des Un-
terschenkels geführt habe. Auf die mit der Feststellung eines
„groben“ Behandlungsfehlers ggf. verbundene Beweislast-
umkehr kommt es bei festgestelltem Ursachenzusammen-
hang nicht mehr an. Von Bedeutung ist dann auch nicht, ob
dem Arzt der ihm obliegende Nachweis gelingt, dass er den
Patienten vor der Operation rechtzeitig und umfassend auf
die mit dem operativen Eingriff verbundenen Risiken aufge-
klärt hat.
Ergänzend zum Thema
Neben einem weiteren Fall nicht indizierter operativer Be-
handlung eines Clavus mit nachfolgender Unterschenkel-
amputation waren bislang 12-mal diabetisch bedingte Durch-
blutungsstörungen fehlerhaft behandelt worden, wie zum
Beispiel eine diabetischeVorfuß-Gangrän sowie neuropathi-
sche Ulcera am Fußballen 4-mal. Beteiligt waren Fachärzte
der Inneren Medizin, der Chirurgie und der Dermatologie.
Die Behandlung einer diabetischen Gangrän an Zehen oder
Füßen war in 10 Fällen unzureichend.DieserVorwurf betraf
Allgemeinmediziner (davon einmal eine so genannte Sauer-
stoffinsufflation) und Ärzte anderer Fachrichtungen wegen
nicht ausreichender Kontrollen des Blutzuckers im Labor
bzw. der Zuckerausscheidung im Harn. In mehreren Fällen
behandelten Internisten fehlerhaft, weil sie eine indizierte
Insulinbehandlung unterließen.
Bei Hammerzehen-Operationen an Diabetikern wurde
5-mal eine hinreichende perioperative medikamentöse Dia-
betes-Therapie versäumt, davon 3-mal mit der Folge einer
Unterschenkelamputation. Beteiligt waren Fachärzte der
Chirurgie und der Orthopädie.
Herbert Weltrich und Herwarth Lent
Anmerkung
In der Leserzuschrift der Ärzte einer Gemeinschaftspraxis für All-
gemeinmedizin und Innere Medizin wurden die Dringlichkeit von
Fortbildung zu diesem Thema betont und ergänzend allgemeine
Hinweise zur Behandlung einer chronischen Wunde am Fuß von
Diabetikern auf Grund praktischer Erfahrungen mitgeteilt sowie
neuere Literatur aus dem Jahre 1999 zitiert.
In der Antwort wurde zum Ausdruck gebracht, dass Erörterungen
über den beurteilten Einzelfall hinaus grundsätzlich der Fachlitera-
tur überlassen würden. Die Literatur aus dem Jahre 1999 hätte im
vorliegenden Fall, dessen Beurteilung im Jahre 1998 abgeschlos-
sen wurde, noch nicht berücksichtigt werden können.