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– nicht so extravagant waren, dass sie sie
sammeln würde. Diese Begegnung habe ihr
eine neue Sichtweise auf die Gestaltung von
Büchern vermittelt, so die Designerin ge-
genüber Yang Yang, Redakteur von „China
Daily“, der die Geschichte zusammengetra-
gen hat.
Lyu war spontan nach dem Besuch
der Ausstellung so inspiriert, dass er ge-
genüber seinen Freunden frech behaup-
tete: „Ich werde das wundervollste Buch
machen.“ Die beiden Freunde versprachen
zu helfen. Die inhaltliche Geschichte nahe-
liegend, aber es war ein Außenstehender,
der auf der Buchmesse in Peking den ent-
scheidenden Tipp gab – der stellvertretende
Herausgeber des Guangxi Fine Arts Publi-
shing House, Zhang. Denn Buchhändler Lyu
zeichnete auf jedem Fax, mit denen er mit
den Verlagen korrespondierte, eine kleine
Karikatur seines Gemütszustandes. Mal lä-
chelnd, mal skeptisch, manchmal zornig, je
nachdem, wie gut die Abwicklung klappte.
Diese Zeichnungen bilden jetzt den Grund-
stock des Buches und des Daumenkinos.
Dazu stellte der Buchhändler die Geschichte
der Fangyuan Buchhandlung, ihrer Aufträ-
ge, seiner Familie, ihrer und seiner Kunst,
die damit verwoben ist, und mischte so Pri-
vates und Geschäftliches.
Berührende Geschichte
„China Daily“-Autor Yang Yang schreibt:
„Die Geschichten, die das Buch über einen
einfachen Mann und den Buchladen seiner
Familie in der Stadt Xi’an erzählt, dürften
die Leser eher unwahrscheinlich stark be-
rühren. Wer jedoch aufmerksam durch die
Reihenfolge der Seiten blättert, stellt fest:
Die Geschichte der Fangyuan Buchhandlung
berührt und amüsiert gerade durch ihre Ge-
wöhnlichkeit und gleichzeitig geniale Insze-
nierung. Leicht und luftig ist die Text- und
Bildkomposition arrangiert. Geschickt nutzt
die Gestalterin die Form des Daumenkino-
buches. Die Karikaturen des Gesichts des
Mannes auf den linken Seiten der Fäden,
die das Buch zusammenhalten, muss man
einfach bestaunen.“
„Wer das Buch zur Hand nimmt,
sieht Lyu Chonghua und den Buchladen“,
plaudert Designerin Li aus, Professorin an
der Fakultät für Design der Xi’an Kunstaka-
demie, als sie auf einem hölzernen Bar-
hocker am Tresen in der Fangyuan Buch-
handlung sitzt. Der 200 Quadratmeter große
Buchladen, direkt neben dem Eingang zur
Akademie, ist vollgestopft mit über 20.000
Büchern und Stücken aus und über die
Kunst, wie Musterbüchern zur Kalligraphie,
Gips-Skulpturen und Reihe um Reihe or-
dentlich gelagerter Pinsel.
Aus eigenen Mitteln finanziert
Li, 44, wirkt in ihrem dunklen Baumwoll-
kleid elegant. Ihr schwarzes Haar trägt sie
zu einem Knoten gebunden, das durch eine
Haarnadel zusammengehalten wird. Sie war
Kommilitonin von Lyu an der Xi’an Akade-
mie der Schönen Künste, wo das Paar vor
über 20 Jahren Grafikdesign studierte. „Viele
Menschen sagen, es sei das erste Mal, das
ein Designer kreativ ein solches Cover ge-
schaffen habe“, sagt die Designerin. „Ja klar,
es ist einfaches Einwickelmaterial für Bü-
cher. Jeden Tag, wenn ich in die Buchhand-
lung komme, sehe ich dieses olivgrüne Ein-
wickelmaterial an der Tür.“ Verleger nutzen
es für den Transport von Büchern, weil es
billig und haltbar zugleich ist.
Lyu finanzierte mit seinem eigenen
Geld die erste und zweite Auflage des Bu-
ches mit 7.500 Exemplaren. Die Kosten la-
gen bei mehr als 200.000 Yuan, rund 27.000
Euro. Nach dem Gewinn der Goldmedaille
ist die Finanzierung der dritten Auflage, die
bald erscheinen soll, gesichert. „Der Verlag
wollte zunächst die Verkäufe abwarten, be-
vor die dritte Auflage in Druck geht, aber
ich erklärte ihnen, jetzt innezuhalten sei al-
bern. Preisträger verkaufen immer mindes-
tens 10.000 Bücher. Das ist kein Problem“,
kichert Lyu, als er die Geschichte Yang Yang
erzählt.
Seit 2002 nutzte Lyu für seine Bestel-
lungen bei den Verlagen ein Faxgerät und
fand einen Weg, wie sich seine Bestellun-
gen aus der Masse abhoben. „Es gibt eine
hohe Fluktuationsrate bei den Vertriebsmit-
arbeitern in den Verlagen und bevor irgend-
jemand mich und unsere Anforderungen
kannte, war er oft schon wieder versetzt.
Das bedeutet, ich verbringe sehr viel Zeit
damit, den Nachfolger kennenzulernen“, so
Lyu.
Daher begann er Karikaturen von
sich selbst als Signatur an der unteren
rechten Ecke jedes Auftrages zu zeichnen.
Jede zeigte einen anderen Gefühlszustand:
Ärgerlich mit zornigen Augen und weit of-
fenem Mund, wenn er meinte, seine Auf-
träge würden ignoriert, einem lächelnden
s
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e, seine
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die wirtschaftlichen Unwägbar-
keiten liegen mehr bei Ziegel und
Mörtel als im Cyberspace. Alleine
im Jahr 2008 habe sich die Miete
vervierfacht und verschlinge die
Gewinne, so Lyu.
Ende Juni 2010 veranstaltete die
Shaanxi Bücherei eine Ausstellung
mit demTitel „Die schönsten deut-
schenBücher“. Li Jin, LyuChongua
und ein weiterer Kommilitone Wei
Tao besuchten die Ausstellung. Li,
die Buchgestaltung an der Univer-
sität lehrt, nahm ein Lineal, ein
Notizbuch und einen Bleistift, um
die Bücher zu untersuchen. Siewar
überrascht, dass die ausgestellten
Werke—soattraktiv sie schienen—
nicht so extravagantwaren, dass sie
sie sammeln würde. Diese Begeg-
nung habe ihr eine neue Sichtwei-
se auf die Gestaltung von Büchern
vermittelt, so die Designerin.
LyuwurdedurchdieAusstellung
ebenso inspiriert, dass er seinen
Freunden erklärte: „Ich werde das
wundervollste Buch machen.“ Die
beiden Freunde versprachen zu
helfen. 2011 begann Lyu das Mate-
rial zusammenzusammeln, das die
Geschichte seiner Familie und der
Buchhandlung aus unterschied-
lichsten Perspektiven erzählt. „Ich
wollte nicht nur die Geschichte der
Buchhandlung,meiner Familie, der
Aufträge, sondern auch die Ölge-
mälde meines Vaters, meiner Frau,
die Signets die ich geschnitzt habe,
die Erzählungen meiner Kinder
und ihre Zeichnungen und ande-
re wertvolle Erinnerungen in das
Buch einbringen“, erzählt Lyu.
Viele der 10.000 Auftragsblätter
sind sich ähnlich und so wählte
Auftrages.
FÜR CHINA DAILY
und Zeichnungen aufgedruckt – wie eine
Inhaltsangabe. Die besonders breite hin-
tere Partie lässt links von der grauen Heft-
schnur, die alles zusammenhält, vier Mini-
bücher entstehen. Sie rauschen in der Art
eines Daumenkinos an der Fingerkuppe
vorbei. Dort wirken die Karikaturengesich-
ter selbst wie Schriftzeichen. Im Hauptbuch
staunt man, wie leicht und luftig Text und
Bild zusammenspielen. Was für eine Frei-
heit: Die Schrift wird sowohl horizontal
von links nach rechts als auch vertikal von
rechts nach links gesetzt. Das visuelle Prin-
zip von Schrift und Skizze lässt beides als
Bedeutungsträger in lediglich unterschied-
lichen Aggregatzuständen erscheinen. Wie
in einem dritten, abstrakten Zustand er-
scheint die ganze Seite selbst – mit groß-
zügigem Kopf- und Bundsteg, mit den ge-
steuerten Verhältnissen von bedruckter und
unbedruckter Fläche – und wirkt wie ein
Superzeichen. Alle Aspekte dieses Buches
– Material, Zeichen, Druck, Bindung – sind
organisch. Wie eine ungeöffnete Frucht
halten die bedruckten Versoseiten – vorn
durch den Falz noch geschlossen – weiteren
Inhalt bereit. Als wenn solche Bücher von
alleine wachsen würden.“
Die Geschichte des 2016 prämierten
Buches beginnt im Jahr 2010 in China. Die
Shaanxi Bücherei zeigte eine Ausstellung
mit dem Titel „Die schönsten deutschen
Bücher“. Gestalterin Li Jin, Buchhändler
Lyu Chongua und ein Kommilitone besuch-
ten die Ausstellung. Li, die Buchgestaltung
an der Universität lehrt, beschäftigte sich
besonders intensiv mit den ausgestellten
Werken und war überrascht, dass die aus-
gestellten Werke – so attraktiv sie schienen
Aus über 10.000 solcher Faxblätter wählte Buchhändler Lyu Chonghua
und Designerin Li Jin die ausdruckstärksten Zeichnungen aus und ver-
banden sie in dem Buch zu einer Art Daumenkino.