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Gutachtliche Entscheidungen

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Die stets fortschreitende Entwicklung in der medizinischen

Diagnostik und Behandlung führt bisweilen zu der Frage,ob

und wann und unter welchen Voraussetzungen eine bisher

anerkannte diagnostische oder kurative Maßnahme nicht

mehr angewandt werden soll und stattdessen eine inzwi-

schen neu entwickelte andere Methode zu bevorzugen ist.

In einem von der Gutachterkommission zu beurteilenden

Fall ging es um die Frage, ob bei einer bereits mehrfach an

derWirbelsäule voroperierten Patientin nach erneutemAuf-

treten von Zervikobrachialgien mit Gangunsicherheit die

Durchführung einer Myelographie als erste diagnostische

Maßnahme durchgeführt werden durfte oder ob eine ma-

gnetische Resonanztomographie (MRT) als Methode der

Wahl dem geltenden medizinischen Standard entsprochen

hätte.

Die zunächst nur lumbale Myelographie mit wasserlösli-

chen Kontrastmitteln hatte seit 1969 einen wesentlichen

Fortschritt in der Bilddiagnostik spinaler Erkrankungen er-

geben. Die Myelographie ist allerdings wegen der damit ver-

bundenen Kontrastmitteleinbringung in den Subarachno-

idalraum eine invasive Untersuchungsmethode, die im

Lumbalbereich in aller Regel als Nebenwirkung nur Kopf-

schmerzen mit sich bringt, während Kontrastmittelunver-

träglichkeit, Arachnitiden und Infektionen selten sind.

Bei der Punktion des Subarachnoidalraumes im Bereich der

Halswirbelsäule gibt es zur Instillation des Kontrastmittels

zum einen die Möglichkeit der klassischen Subokzipital-

punktion, zum anderen den lateralen Zugang unter Durch-

leuchtungskontrolle zwischen dem 1. und 2. Halswirbel. Die

Tatsache, dass es dabei zu einer Schädigung des Rücken-

marks kommen kann, hat praktisch zum Verlassen der Me-

thode geführt. Im vorliegenden Fall hatte sich die Gutachter-

kommission damit auseinanderzusetzen, ob die Myelographie

im Zeitalter der MRT überhaupt noch ihren Stellenwert hat.

Fallschilderung

Die Patientin war in der gleichen Neurochirurgischen Kli-

nik, in der sie später auch in dem hier zu beurteilenden Fall

war, bereits im Jahre 2002 zunächst wegen einer Wirbelka-

nalstenose und eines Bandscheibenvorfalls an der Lenden-

wirbelsäule erfolgreich operiert worden. Im Februar 2006

folgte wegen einer zunehmenden zervikalen Myelopathie

eine Operation an der Halswirbelsäule, wobei die Band-

scheiben HW3/4, HW4/5 und HW5/6 operativ angegangen

und eine Distraktionsspondylodese mit PEEK-Cages erfolg-

reich durchgeführt wurden. Der Patientin ging es nach die-

ser Operation deutlich besser, bis sie Anfang 2007 erneute

Zervikalbrachialgien entwickelte und schließlichwegenGang-

unsicherheit mehrfach stürzte, was zwei Oberschenkelhals-

brüche zur Folge hatte, die operativ versorgt werden mussten.

Wegen der zunehmenden Gangunsicherheit wurde die in-

zwischen 71-jährige Patientin von ihrem Hausarzt unter der

Diagnose Peronaeusläsion links, Schwellung linkes Knie in

die Neurochirurgische Klinik eingewiesen und dort statio-

när aufgenommen.Der neurologische Aufnahmebefund war

mehr oder weniger diffus mit Kribbelparaesthesien in den

Armen und einer Schwäche beider Beine mit einer gewissen

Rechtsbetonung. Eine segmentale Zuordnung war nicht

möglich, die Muskeleigenreflexe an den Beinen waren nicht

auslösbar; die Patientin ist Diabetikerin.

Noch am Aufnahmetag wurde die Patientin einer Myelogra-

phie unterzogen,wobei die zervikale Punktion nicht gelang.

Es gelang jedoch, ein Kontrastmittel lumbal zu instillieren,

das sich aber nicht kranial in Richtung auf die Brust- und

Halswirbelsäule hochschaukeln ließ, sodass auch die post-

myelographisch durchgeführte Computertomographie kein

Kontrastmittel im zunächst interessierenden zervikalen Be-

reich zeigte. Der Patientin war zudem bei der Untersuchung

übel geworden.

Am Folgetag entwickelte sie eine Querschnittlähmung etwa

ab den thorakalen Segmenten 9 und 10. Die nun durchge-

führte MRT der gesamtenWirbelsäule ergab einen nicht er-

warteten Bandscheibenvorfall zwischen dem 9. und 10.

Brustwirbel. Dieser wurde mit einer klaren Indikation ope-

rativ angegangen und wegen der Rechtsbetonung der Quer-

schnittsymptomatik von rechts her operiert, wobei eine in

diesen Fällen übliche Costotransversektomie erfolgte, nach

der der Bandscheibenvorfall ausgeräumt werden konnte.

Der Erfolg stellte sich in den nächsten Tagen ein, die Patien-

tin konnte wieder laufen.

Aus letztlich nicht nachvollziehbaren Gründen entwickelte

die Patientin 13 Tage nach der erfolgreichen Operation er-

neut eine Querschnittsymptomatik, und es wurde folgerich-

tig mit klarer Indikation erneut operiert und nun der links-

seitige Restbandscheibenvorfall ausgeräumt. Obwohl auch

diese Operation entsprechend den medizinischen Standards

vorgenommen wurde, bildete sich die Querschnittlähmung

praktisch nicht mehr zurück.

Gutachtliche Beurteilung

In dem gutachtlichen Bescheid wird zunächst dargelegt, die

behandelnden Ärzte seien davon ausgegangen, dass bei der

imVorjahr schon einmal an der Halswirbelsäule erfolgreich

operierten Patientin erneut eine progrediente zervikale

Myelopathie vorliegen könnte. Die zunächst versuchte zer-

vikale Myelographie sei nicht gelungen, bei der anschließen-

den lumbalen Myelographie sei es der Patientin übel gewor-

den, die Instillation des Kontrastmittels sei zwar im lumba-

len Spinalkanal gelungen, jedoch sei eine Darstellung der

höheren Wirbelsäulenabschnitte nicht möglich gewesen.

Die am Folgetag sich entwickelnde Querschnittlähmung sei

nach magnetresonanztomographischem Nachweis eines

großen Bandscheibenvorfalls operativ richtig behandelt

worden und habe sich danach zurückgebildet.

Ist die Myelographie obsolet?

Diagnostik und Therapie nach dem zum jeweiligen Zeitpunkt geltenden

medizinischen Standard durchführen