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Gutachtliche Entscheidungen

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Ärztliche Behandlung erfordert nicht selten die Hilfe ande-

rer Kollegen aus demselben oder einem anderen Fachgebiet

(horizontale Arbeitsteilung). Horizontale Arbeitsteilung ist

nicht mit horizontalerVerantwortungsteilung zu verwechseln.

Jeder in das Behandlungsteam einbezogene Arzt trägt und

behält in vollem Umfang die Verantwortung für seine Hand-

lungen und Unterlassungen. Bei Überweisungen müssen die

selbst und die von anderen erhobenen Befunde und Ver-

dachtsäußerungen weitergegeben werden. Die Nichtweiter-

gabe eines Verdachtes an mitbehandelnde Kollegen kann de-

letäre Folgen haben,wie das folgende Beispiel deutlich macht.

Der Sachverhalt

Nach etwa siebenWochen konservativer Behandlung durch

den Orthopäden zu 1) stellte sich die 63 Jahre alte Patientin

am 23. April bei dem Orthopäden zu 2) vor und klagte über

Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule. Der Orthopä-

de erhob folgenden Untersuchungsbefund: Halswirbel-

säule: Kinn–Jugulum–Abstand 2 cm, Reklination 20 cm,

Seitneigung 5 – 0 – 25 °, Rotation 60 – 0 – 80°, keine moto-

risch-sensiblen Störungen. Keine Kraftdifferenzen, Reflexe

seitengleich.Kein Schwindel auslösbar.Auf Röntgenaufnah-

men der Halswirbelsäule in 2 Ebenen diagnostizierte er ei-

ne Osteochondrose C 2/3 bis C 4/5. Er stellte folgende Dia-

gnosen: Cervicobrachialgie bei Osteochondrose C 5/C 6,

C 2/C 3 und beg. C 4/C 5.Therapeutisch führte er eine anal-

getisch-antiphlogistische Behandlung mit Quaddeln (Xylo-

neural) und Diclo i. m. durch und gab der Patientin in der

Zeit vom 23. April bis zum 1. August 60 Diclofenac- und

51 Dexametason-Injektionen.

Parallel zu der Behandlung durch den Orthopäden wurde

die Patientin von einemWeiterbildungsassistenten einerAll-

gemeinmedizinischen Gemeinschaftspraxis mitbetreut.Wie

aus dessen sorgfältiger Dokumentation hervorgeht, er-

streckte sich seine Behandlung im Wesentlichen auf die

Schmerzbekämpfung unter Berücksichtigung von Neben-

wirkungen, die von bestimmten NSAR zu befürchten waren.

Thorakales Engegefühl

Da der mitbetreuende Arzt die seit sechs Wochen erfolgen-

den täglichen Infiltrationen mit Xyloneural und Injektionen

von Diclofenac und Dexamethason 4 mg wegen der zu

fürchtenden Nebenwirkungen für gefährlich hielt, wollte er

mit demOrthopäden zu 2) Rücksprache nehmen, der jedoch

wegen Krankheit nicht zu sprechen war.

Am 2. August stellte sich die Patientin notfallmäßig in der

allgemeinärztlichen Praxis vor. Sie schilderte ein thorakales

Engegefühl und wies auf Unterschenkelödeme hin, die sich

seit einerWoche gebildet hätten. Die Patientin war deutlich

dyspnoeisch. Herz und Lungen waren unauffällig, es be-

stand aber ein hoher Blutdruck von 170/85 mm/Hg. Der

Arzt wies die Patientin mit Verdacht auf Myokardinfarkt

notfallmäßig per RTWund Notarzt in das Klinikum ein.

Am 16. August lag der Kurzbericht des Klinikums vor: Zu-

stand nach frischer tieferVenenthrombose des linken Unter-

schenkels.Orientierende Tumorsuche (CTThorax, Sono Ab-

domen, ÖGD, gynäkologische Untersuchung, Tumormar-

ker). Alle Befunde waren unauffällig. Eine Lungenembolie

konnte ausgeschlossen werden. Ein Ulcus ventriculi (Forest

III) war ohne Blutung.

Am 17. August war die Patientin wieder bei dem mitbetreu-

enden Kollegen in der Praxis für Allgemeinmedizin. Der

stellte neu ein ataktisches Gangbild mit Koordinationsstö-

rungen der Arme sowie zunehmende schmerzlose Parästhe-

sien beider Hände fest.Der Finger-Nase-Versuchwar beider-

seits pathologisch. Bei einer telefonischen Rücksprache mit

dem Orthopäden zu 2) wurde bekannt, dass in dem CT-Be-

fund eines Radiologen vom 25. Juni bereits dokumentiert

wordenwar:„Eine Spondylodiscitis C 2/C 3 kann nicht sicher

ausgeschlossen werden.Weitere Diagnostik ist nicht erfolgt.“

Der Allgemeinarzt veranlasste sofort die Aufnahme in die

Neurologische Klinik, die am 20.August 2004 erfolgte. Dort

verschlechterte sich der Zustand zwei Tage später drama-

tisch. Es wurde eine Tetraparese festgestellt mit Ateminsuf-

fizienz. Als Ursache wurde ein entzündlicher Prozess der

Halswirbelsäule wohl von der Spondylodiscitis HWK 2/3

ausgehend festgestellt mit eitrigem epiduralem Infiltrat.

Notfallmäßig wurde deshalb der dritte Halswirbelkörper re-

seziert mit Cage-Ersatz und ventraler Plattenosteosynthese

von C 2 bis C 4 bei Spondylodiscitis C 2 bis 3 mit cervicalem

Querschnittssyndrom ab C 2 und neurogener Blasen- und

Mastdarmentleerungsstörung.Weitere Diagnosen waren ei-

ne aszendierende cranio-cervicale Sepsis mit Hirnstammbe-

teiligung und respiratorischer Insuffizienz, ein Pneumo-

thorax rechts, eine Atelektase und ein Pleuraerguss links,

eine Pneumonie, ein Harnwegsinfekt, eine Sinusitis maxil-

laris, eine Candidose der Haut (Mundhöhle, Rectum/Anus,

Vulva/Vagina), eine periphere arterielle Verschlusskrank-

heit, ein Zustand nach aortobifemoralem Bypass, ein

Zustand nach Thrombose des linken Unterschenkels (Au-

gust 2004), ein Zustand nach Hüft-Totalendoprothese

rechts, ein Zustand nach ACVB, ein Zustand nach Forrest

III-Ulcus ventriculi-Blutung und eine alimentäre Kachexie.

Durch den entlastenden Eingriff an der Halswirbelsäule

wurde die Atmung wieder suffizient und die Tetraparese

war leicht rückläufig. Deshalb konnte die Patientin zur

Früh-Rehabilitation am 27. August in eine Querschnitts-Ab-

teilung verlegt werden. Dort ließ die Kooperation der er-

schöpften Patientin bei sich immer mehr verschlechterndem

Allgemeinzustand nach.

Am 24. November wies sie eine linksseitige mimische Ge-

sichtssymptomatik auf, die den Verdacht auf Apoplexie

rechts ergab. Ein Schädel–CT mit neurologischer Konsiliar-

untersuchung ergab den Verdacht auf ein Mittelhirnsyn-

drom. In den Folgetagen war die Patientin nicht mehr er-

weckbar und reagierte nicht auf endobronchiales Absaugen

Arbeitsteilung entbindet nicht von Verantwortung

Horizontale Arbeitsteilung unter Ärzten nicht mit horizontaler Verantwortungsteilung

gleichsetzen