Background Image
Table of Contents Table of Contents
Previous Page  67 / 220 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 67 / 220 Next Page
Page Background

Zusammenfassend stellte die Gutachterkommission fest:

Die Versäumnisse in der beschuldigten Klinik sind als vor-

werfbare Behandlungsfehler zu bewerten.Wäre die Streck-

sehnenverletzung erkannt worden, hätte diese mittels einer

direkten Sehnennaht in der Klinik oder nach sofortiger

Überweisung in einer Spezialklinik behoben werden kön-

nen. Der entstandene Gesundheitsschaden liege in der un-

nötigen Behandlungszeit bis zu der notwendigerweise jetzt

umfangreicheren Operation am 18. November. Ein Dauer-

schaden habe allerdings durch die erfolgreiche Indicisplas–

tik weitgehend vermieden werden können.

Zweiter Fall: Glas-Schnittverletzung

an der Beugeseite des Handgelenkes

Der 5-jährige Patient erlitt die Verletzung am 15. März, als er

gegen eine verglaste Haustür lief. Die zerbrochene Glas-

scheibe drang in die rechte Handgelenksbeugefalte ein. Die

ärztliche Erstbehandlung erfolgte in der Ambulanz der be-

schuldigten chirurgischen Klinik. Eine Dokumentation

über die Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen

konnte die Klinik nicht vorlegen. Einzelheiten des Sachver-

halts ließen sich erst der späteren ärztlichen Stellungnahme

gegenüber der Gutachterkommission entnehmen.

Danach ist eine etwa 4 cm lange, querverlaufende Schnitt-

wunde amHandgelenk in Lokalanästhesie versorgt worden.

Bei der vorhergehenden Untersuchung habe außer der

„Durchtrennung der Haut und der oberflächlichen Anteile

des subkutanen Fettgewebes ... keine breite Eröffnung tiefe-

rer Strukturen festgestellt“ werden können. Anhaltspunkte

für eine Verletzung von Nerven und Sehnen seien nicht ge-

wonnen worden. Es fand deshalb lediglich eine primäre

oberflächliche Wundversorgung statt.

Die Weiterbehandlung erfolgte durch eine niedergelassene

Kinderärztin, die in der Folgezeit bis zum 20. März Wund-

kontrollen durchführte. Es kam zurWundheilung.

Auftreten von Sensibilitätsstörungen

Bei der letzten Kontrolle am 20. März stellte die Ärztin Ge-

fühlsstörungen an der Innenseite des rechten Daumens fest

und überwies den Patienten deshalb zur Untersuchung in

die – mitbeschuldigte – kinderchirurgische Abteilung eines

anderen Krankenhauses.

Nach dem Bericht des Chefarztes der Abteilung konnten

Hinweise auf eine verletzungsbedingte Beteiligung „wichti-

ger Strukturen“ nicht gefunden werden. Die Kinderärztin

entfernte die Fäden am 26. März. Danach war die Wunde

fest verheilt.

Am 13.April wurde das Kind wiederum in der kinderchirur-

gischen Abteilung vorgestellt. Anlass war eine Schwellung

über der Streckseite des Mittelgelenkes des rechten 4. Fin-

gers. Der Untersuchungsbericht der Klinik erwähnt nur ei-

ne „abklingende Weichteilschwellung“. Auf die Folgen der

der Klinik bekannten Schnittverletzung im Handgelenksbe-

reich geht der Bericht nicht ein. Auch der Ursache der Ge-

fühlsstörungen, auf die aufmerksam gemacht worden war,

wird nicht nachgegangen.

Als die Kinderärztin bei einer Vorstellung des Kindes im

Mai weiter Gefühlsstörungen im Daumen feststellte, veran-

lasste sie eine erneute Untersuchung in der genannten kin-

derchirurgischen Abteilung, die zur Feststellung eines

„begrenzten Sensibilitätsverlustes“ auf der Beugeseite des

Daumens führte. Das Kind wurde danach in einer neurolo-

gischen Klinik mit dem Ergebnis einer „kompletten motori-

schen Schädigung und einer offenbar inkompletten sensi-

blen Schädigung des Nervus medianus“ untersucht.

Stationäre operative Behandlung

Unter der Diagnose „Glassplitterverletzung am rechten

Handgelenk volar mit subtotaler Durchtrennung des N.

medianus auf Handgelenkshöhe und Durchtrennung der

Flexor carpi radialis-Sehne und Narbenneurom des N. me-

dianus“ erfolgte die Operation am 9. Juni in einer Klinik für

Plastische, Hand-, Mikro- undWiederherstellungschirurgie.

Im ausführlichen Operationsbericht wird dargelegt, „dass

2/3 des N. medianus durchtrennt waren und keine Verbin-

dung miteinander hatten und sich aus diesem Grunde ein

Neurom gebildet hat“. Nach Resektion des Neuroms konn-

ten die Nervenenden in 10-prozentiger Beugestellung des

Handgelenkes spannungsfrei adaptiert werden. Auf eine

Nerventransplantation wurde verzichtet. Anschließend

wurde die durchtrennte Sehne vernäht. Schließlich wurden

die einzelnen radialen Faszikelgruppen des N. medianus

„aufeinander koaptiert und mit 10,0 Fäden vernäht“. Nach

Einlegen einer Drainage wurde der Arm in einem Gipsver-

band ruhiggestellt. Der postoperative Verlauf war komplika-

tionslos. Die Entlassung zur Weiterbehandlung durch die

Kinderärztin erfolgte am 13. Juni.

Einem für die Krankenversicherung gefertigten Gutachten

vom 8. Juli konnte entnommen werden, dass die Nervennaht

weitgehend erfolgreich war. Es bestand noch eine abge-

schwächte Sensibilität im Daumenballen mit vorzeitiger Er-

schöpfbarkeit bei maximaler Innervation. Das geprüfte

Reinnervationspotential lag bei schätzungsweise 60 Pro-

zent, die Leitgeschwindigkeit des N. medianus proximal des

Handgelenkes lag im Normbereich.

Eine „weitere graduelle Zunahme der Innervation“ wurde

für möglich gehalten. Eine bleibende Teilschädigung sei aller-

dings nicht auszuschließen. Nennenswerte Funktionsein-

bußen bestanden nicht.

Gutachtliche Beurteilung

Die Glas-Schnittverletzung des Kindes ist in der chirurgi-

schen Ambulanz ungenügend versorgt worden. Es fehlte an

einer gründlichen Wundrevision bis in die Tiefe der Verlet-

zung unter Blutleere und Anästhesie. Die Schnittwunde an

der radialen Beugeseite des Handgelenkes musste den Arzt

veranlassen, eine genaue Untersuchung auf den möglichen

Ausfall motorischer und nervaler Funktionen des Daumens

und der Finger vorzunehmen. Auch ohne spezielle hand-

chirurgische Erfahrung ist von einemChirurgen zu verlangen,

dass er bei einer solchen Schnittverletzung die Möglichkeit

einer Mitbeteiligung der nicht allzu tief gelegenen Struktu-

ren, wie N. medianus und Sehnen, in Betracht zieht und die

notwendige eingehende Untersuchung veranlasst. Nach

Gutachtliche Entscheidungen

65

Fehlerhafte Behandlung von Schnittverletzungen