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Gutachtliche Entscheidungen
Nicht diagnostiziertes Aorten-Aneurysma
muskelmassenzunahme. Herzgewicht 665 g. Allgemein zar-
tes Schlagader- und Herzkranzschlagadersystem.Vergrößer-
te, mäßige Fettleber.
Beurteilung
Die Akut-Symptomatik bei dem 47-jährigen Patienten mit
Adipositas per magna war absolut typisch für das später
nachgewiesene Aneurysma dissecans Typ Stanford A: Zu-
nächst retrosternaler Vernichtungsschmerz mit akut deutli-
chem Schwitzen, Blässe, Unruhe und Einschränkung der
Atmung. Typisch war auch der wandernde Schmerz, der
von retrosternal in den Kopf und in die Zähne ausstrahlte
und weiter in die Schulterblätter, in den linken Thorax und
in den Bauch wanderte, bei weiter bestehenden Symptomen
des kompensierten Schocks und deutlicher Einschränkung
der Inspiration.
Bei der Notfallaufnahme wurden zwar drei Differenzialdia-
gnosen des thorakalen Vernichtungsschmerzes abgeklärt,
nämlich ein Herzinfarkt durch EKG und Troponin-Bestim-
mung, eine Lungenembolie durch Gasanalysen und ein
Pneumothorax durch Röntgenuntersuchung des Thorax und
Gasanalyse, die sich aus der Beschwerdesymptomatik erge-
benden eindeutigen Hinweise auf ein Aneurysma dissecans
wurden aber verkannt. Die Sonographie des Abdomens er-
gab noch keine Veränderung der Bauchaorta und trans-
diaphragmal noch keinen Perikarderguss. Es war als fehler-
haft zu beanstanden, dass eine zielgerichtete internistisch-
kardiologische Diagnostik zum Nachweis oder Ausschluss
eines Aneurysma dissecans unterblieb. Bei Wahrung des
Facharztstandards kann nach typischer Akut-Symptomatik
die Diagnostik per Echokardiographie auf dem Operations-
tisch und die direkt anschließende Therapie mit arterieller
Kanülierung für den Anschluss der Herz-Lungenmaschine
über die A. subclavia rechts und der Aorta ascendens-Ersatz
durch Gefäßprothese erfolgen. Dieses Procedere geht nach
der Literatur mit einer Letalität von 8 bis 15 Prozent einher.
Die rechtliche Einordnung dieser Beurteilung ist nicht ein-
fach: Zunächst wurde ein Diagnosefehler festgestellt, weil
der Patient trotz deutlicher Hinweiszeichen auf Kreislauf-
und Atembeteiligung in die Orthopädische Klinik verlegt
wurde. Ein Diagnosefehler, der auf einer Fehlinterpretation
der Befunde beruht, ist aber nicht immer ein Behandlungs-
fehler
(BGH VersR 2003, 1256)
. Zum Behandlungsfehler wird
der Diagnosefehler, wenn dem Arzt die Fehlinterpretation
oder das Unterlassen notwendiger Befunderhebung vorge-
worfen werden kann. Zum Behandlungsfehler wird der Dia-
gnosefehler aber auch, wenn es sich um einen groben Dia-
gnosefehler handelt. Als grob wird er aber nur dann bewer-
tet, wenn es sich um einen fundamentalen Irrtum handelt
(BGH VersR 188, 293; VersR 1981 1033; VersR 1992, 1263)
.
Für die juristische Prüfung ist im vorliegenden Fall bedeut-
sam, dass neben der fehlerhaften Interpretation nicht alle Be-
funde beachtet wurden.Die Befunde in der Notfallaufnahme,
der typische wandernde Schmerz des Aneurysma dissecans, die
Kreislaufbeteiligung mit Blutdruckwerten von 100 mmHg
systolisch mit Kaltschweißigkeit, Blässe und deutlichem Un-
wohlsein und Krankheitsgefühl sowie die Einschränkung
der Lungenatmung wurden nicht nur fehlgedeutet. Diesen
deutlichen Hinweisen auf ein Aneurysma dissecans hätte
durch internistisch-kardiologische Diagnostik nachgegan-
gen werden müssen. In der Unterlassung der dringend gebo-
tenen weiteren Untersuchungen liegt ein Behandungsfehler.
Haftungsrechtlich bedeutsam ist die unzureichende Abklä-
rung des Krankheitsbildes
(BGH VersR 1989, 701 = NJW 1989,
2332)
, wenn der Arzt notwendige Untersuchungen nicht
durchführt oder gebotene Befunde nicht erhebt. Ein solcher
Befunderhebungsfehler kann auch vorkommen, wenn die
zunächst gestellte Diagnose durchaus vertretbar war, sich
aber herausstellt, dass die Therapie nicht wirkt. Dann muss
der Arzt prüfen, ob die Symptome auf eine andere Erkran-
kung deuten können und differenzialdiagnostische Untersu-
chungen anstellen.
Mitunter ist es nicht leicht, einen Befunderhebungsfehler
und einen Diagnosefehler voneinander abzugrenzen, setzt
doch die Diagnose einen Befund und seine Bewertung vor-
aus. Eine Fehlinterpretation von erhobenen oder sonst vor-
liegenden Befunden stellt einen Diagnosefehler dar. Ein Be-
funderhebungsfehler und damit ein Therapiefehler liegt da-
gegen vor, wenn eine Erhebung medizinisch gebotener Be-
funde unterlassen wird
(BGH VersR 1988, 293, 294; VersR
1993, 836, 838; VersR 1995, 46; VersR 2003, 1256 f.)
.
Ein Befunderhebungsfehler liegt also vor, wenn der Arzt die
für eine Diagnose oder die für die Kontrolle einer zunächst
gestellten Diagnose angesichts der Symptome medizinisch
zwingend und zweifelsfrei gebotenen Befunde nicht erhebt
und es deshalb bei einer unzutreffenden Diagnose bleibt
(OLG Köln VersR 2005, 1740)
. Ein Befunderhebungsfehler
wird verhältnismäßig oft als grober Behandlungsfehler be-
wertet
(Hart in Festschrift für Eike Schmidt, 2005, S. 131 ff.,
149)
, obwohl die unterlassene Befunderhebung ebenso ein
Bewertungsfehler ist wie die Fehlinterpretation des Befun-
des. Lässt ein Befund mehrere Deutungen zu und konzen-
triert sich der Arzt auf eine, ohne weitere diagnostische Ab-
klärungen vorzunehmen, so ist auch dies ein Bewertungsfeh-
ler. Ein solcher Bewertungsfehler ist jedoch in der Regel kein
grober Behandlungsfehler
(Hart, a. a. O. S. 131 ff., 151)
.
Ein Mangel in der Befunderhebung kann aber von den
Rechtsfolgen her einem groben Behandlungsfehler gleich-
stehen, weil er zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich
der Kausalität des Fehlers für den Gesundheitsschaden füh-
ren kann. Das ist der Fall,wenn sich bei rechtzeitiger und ge-
nügender Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
ein reaktionspflichtiges Ergebnis gezeigt hätte und wenn die
Verkennung eines solchen Befundes fundamental oder die
Nichtreaktion darauf grob fehlerhaft sein würde
(Zoll, MedR
2009, 569, 572)
. So war es hier, weil die Beachtung der ein-
deutigen Befunde zur Therapie des Aneurysmas geführt hätte.
Zusammenfassend war daher festzustellen, dass die erhobe-
nen Befunde, soweit sie zum Ausschluss von Herzinfarkt,
Lungenembolie und Pneumothorax führten, richtig gedeutet
wurden, weshalb ein Diagnosefehler insoweit ausscheidet.
Da die Beschwerdesymptomatik aber deutliche Hinweise auf
ein Aneurysma dissecans gab, war es dringend geboten, dies
abzuklären. Die Beweislast dafür, dass der Patient auch bei
früherer Diagnose und Behandlung verstorben wäre, trifft
die Behandlungsseite.
Jürgen Reidemeister und Lothar Jaeger