

Gutachtliche Entscheidungen
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Nachfolgend zeichnen wir den Krankheitsverlauf eines
47-jährigen Patienten mit Arteriosklerose und Osteoporose
bei Zustand nach einem Bagatellunfall nach: Der Patient
wurde wegen eines plötzlich auftretenden thorakalen Ver-
nichtungsschmerzes poliklinisch – einschließlich Sonogra-
phie des Abdomens und transabdominell des Herzens – dif-
ferenzialdiagnostisch auf Herzinfarkt, Lungenembolie und
Pneumothorax untersucht und nachts wegen bekannter
Rückenschmerzen im Lumbalbereich unter der Diagnose
„Intercostalneuralgie“ in die Orthopädische Klinik verlegt.
Dort starb er nach weiterer fachspezifischer Diagnostik und
Therapie 24 Stunden später im akuten Herz-Kreislaufversagen.
Sachverhalt
Zur Allgemeinanamnese gab der Patient bei der Notfallauf-
nahme seit einem Jahr bestehende Rückenschmerzen im
Lumbalbereich an, mit Ausstrahlung in das linke Bein bis in
das obere Drittel des Oberschenkels, die nach Behandlung
mit Diclofenac nun nicht mehr vorhanden seien.
Einen Tag zuvor sei er auf das Gesäß gefallen. In der darauf
folgenden Nacht sei er durch stechende retrosternale
Schmerzen mit starkem Schwitzen aufgewacht. Die Schmer-
zen seien dann als Zahn- und Kopfschmerzen aufgetreten,
zwischen die Schulterblätter gezogen und mit deutlicher Ein-
schränkung derAtembewegung (Verhinderung der Inspirati-
onstiefe) einhergegangen. Ein Liegen auf dem Bauch sei spä-
ter sehr unangenehm gewesen. Bei derVorstellung in der Not-
fallaufnahme bestanden nur noch retrosternale Schmerzen.
Bei der klinischen Untersuchung fanden sich eine Adipositas
per magna (Größe 176 cm, Gewicht 110 kg, BMI 36), ein re-
duzierter Allgemeinzustand mit Blässe und Unwohlsein, ein
Druckschmerz sternal und über der mittleren Brustwirbel-
säule. Das Liegen auf dem Bauch wurde als „unangenehm“
angegeben.Abdomen weich,Druckschmerz über dem linken
Oberbauch mit auszulösendem Brechreiz, Peristaltik regel-
recht, Wirbelsäule lotgerecht, keine Hämatomzeichnung.
Obere Extremitäten: freier Bewegungsumfang ohne patholo-
gischen Befund. Untere Extremitäten: keine Sensibilitätsstö-
rungen, keine Hyp- oder Parästhesien, keine ausstrahlenden
Schmerzen, kein motorisches Defizit. Freier Bewegungsum-
fang in Hüfte und Kniegelenken. Neurologischer Status un-
auffällig.Keine Sensibilitätsstörungen.Seitengleicher Reflex-
status, keine Kraftminderung. Blutdruck bei der Aufnahme,
das heißt im kompensierten Schockzustand, 100/80 mmHg.
Im Elektrokardiogramm eine Stunde später keine Zeichen
einer hohen Schulter, geringe T-Negativierung in aVR, sonst
unauffällig.
Die Laborwerte eineinhalb Stunden nach Aufnahme des Pa-
tienten:Hb 15,4 g/dl,Hämatokrit 46 Prozent,Thrombozyten
250.000 µl , Leukozyten 11,5/nl, sonst unauffällig.Troponin-
Bestimmung unauffällig. Schriftliche Anforderung eines
internistischen Konsils mit der Fragestellung: „Erbitten Ihre
Mitbeurteilung, Abdomen-Sonographie angemeldet, Dia-
gnostik? Therapie?“
Die Röntgenuntersuchung der BWS und der LWS ergab kei-
nen Hinweis auf eine knöcherne Läsion oder eine Gefügestö-
rung, die ap-Aufnahme des Thorax ergab ein unauffällig ab-
gebildetes Herz,entfaltete Lungen.Die Blutgasanalysen lagen
bei fast 100 Prozent, damit Ausschluss einer Lungenembolie.
In der Sonographie keine freie Flüssigkeit imAbdomen, kein
Perikarderguss, kein Hinweis auf Bauchaortenaneurysma,
Pankreaslipomatose, Verdacht auf Fettleber.
Unter der Verdachtsdiagnose „Intercostalneuralgie“ wurde
der Patient trotz kompensierten Schockzustands und Atem-
einschränkung der Orthopädischen Klinik zugeordnet und
zwei Stunden nachAufnahme auf eine Station der Fachabtei-
lung verlegt.
Im Aufnahmebefund wurden nochmals starke Schmerzen
retrosternal dokumentiert, ausstrahlend in den Rücken und
in den Brustkorb links. Der Patient war blass und schwitzte.
Es wurde Vollkost bestellt und eine Dauer-Schmerztherapie
mit Infusionen von Tramal und Novalgin durchgeführt.
Bei der oberärztlichen Untersuchung am Nachmittag wur-
den ein reduzierter Allgemeinzustand mit Blässe und Un-
wohlsein sowie ein Druckschmerz sternal und im Bereich
der Brustwirbelsäule dokumentiert. Das Liegen auf dem
Bauch wurde als unangenehm bezeichnet. Es bestand ein
Druckschmerz im Bereich des linken Oberbauches mit aus-
zulösendem Brechreiz.Die Peristaltikwar regelrecht. Bei un-
auffälligem radiologischem Befund wurde eine Mobilisation
der BWS durchgeführt mit Lösung von Blockierungen. Es
wurden krankengymnastische Übungen und Fango-Packun-
gen durchgeführt.
Nach derVerlaufskurve brach der Patient am frühen Morgen
des folgenden Tages um 2.10 Uhr auf derToilette zusammen.
Die Nachtschwester konstatierte keinen Blutdruck und kei-
nen Puls. Sie informierte das Reanimations-Team, das bei
dem bewusstlosen Patienten weite, lichtstarre Pupillen vor-
fand. Im EKG fand sich eine ST-Streckenhebung. Die sofort
einsetzende Reanimation war ohne jeden Erfolg. Nach Ein-
stellung der Reanimationsmaßnahmen wurde gegen 3.50
Uhr die Kriminalpolizei informiert.
Am Vormittag fand ein Gespräch zwischen dem Chefarzt,
dem Oberarzt und der Familie statt. Bei der dabei von der Fa-
milie gewünschten Obduktion wurde als Sektionsergebnis
der Nachweis eines dissezierenden Brustaortenaneurysmas
mit Einriss des inneren Blattes der Brustaorta im aufsteigen-
den Anteil circa zwei Zentimeter oberhalb des Schließungs-
randes der Aortenklappe und einem schräg gestellten, etwa
3,2 cm langen Einriss konstatiert (Aneurysma dissecans, Typ
Stanford A). Die resultierende Wühlblutung hatte zu einer
Herzbeuteltamponade mit circa 450 ml altem Blut geführt.
DieWühlblutung setzte sich über den Aortenbogen sowie im
Bereich beider Halsschlagadern, im absteigenden Anteil der
Brustaorta,der Bauchaorta und der Beckenschlagadern bis in
die rechte Oberschenkelarterie fort, ohne Nachweis eines
weiteren Einrisses des inneren Gefäßblattes.Deutliche Herz-
Nicht diagnostiziertes Aorten-Aneurysma
Aneurysma dissecans in Erwägung ziehen