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Gutachtliche Entscheidungen

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Die Gutachterkommission hat schon mehrfach über Fälle

berichtet, in denen die Ursache von Schmerzen im Ober-

schenkel diagnostisch verkannt und falsch behandelt wurde.

Im Folgenden wird ein ungewöhnlicher Fall dargestellt, bei

dem sich Ärzte einer weiterbehandelnden Klinik in fehler-

hafterWeise einer primären Fehldiagnose anschlossen.

Der Fall

Die damals 52-jährige Antragstellerin bemerkte in der Nacht

von Donnerstag auf Freitag beimAufstehen aus dem Bett ei-

nen extrem starken Schmerz im gesamten linken Bein und

konnte erst nach einigen Stunden mühsam den ärztlichen

Notdienst herbeirufen, der sie am Freitag in die Chirurgi-

sche Klinik eines Krankenhauses einwies. Am Montag er-

folgte eine Computertomographie der Lendenwirbelsäule.

Die Bilder ließen unschwer erkennen, dass bei der Patientin

eine Skoliose vorlag, was sich auch auf den am Folgetag an-

gefertigten Röntgenaufnahmen bestätigte. Von den befun-

denden Radiologen wurde auf dem Computertomogramm

eine laterale Bandscheibenprotrusion bei LW3/4 links ge-

sehen, die sich nur auf einer einzigen Schicht darstellte und

die auf der skoliotischen Verbiegung der Lendenwirbelsäu-

le mit daraus resultierender nicht achsengerechter Darstel-

lung im Computertomogramm beruhte.

Unter der unzutreffenden Diagnose eines Bandscheibenvor-

falls LW3/4 links wurde die Patientin fast dreiWochen kon-

servativ behandelt, ohne dass sich eine Besserung einstellte.

Deshalb entschloss man sich, die Patientin in einer Neuro-

chirurgischen Klinik vorzustellen.Hierwurden klinisch kei-

ne eindeutigen Lähmungen und kein sensibles Defizit fest-

gestellt. Es fand sich lediglich das Fehlen des linken Patellar-

sehnenreflexes. Die Neurochirurgen schlossen sich der Dia-

gnose eines Bandscheibenvorfalles bei LW3/4 links lateral

an und übernahmen die Patientin zur Operation. Sicher-

heitshalber erfolgte zuvor noch eine magnetische Resonanz-

tomographie, die einen ähnlich vagen Befund bei LW3/4

links ergab wie die vorangegangene Computertomographie.

Offenbar war dieser Befund für die behandelnden Neuro-

chirurgen nicht aussagefähig genug, weshalb sie zusätzlich

eine periradikuläre Therapie bei LW3/4 links vornahmen.

Hiernach war die Patientin praktisch beschwerdefrei.

Nun wurde die Indikation zur Operation gestellt und die Pa-

tientin dreieinhalbWochen nach dem akuten Ereignis nach

sorgfältigerAufklärung fachgerecht operiert.Der offensicht-

lich erfahrene neurochirurgische Oberarzt stellte die Ner-

venwurzel durch einen lateralen Zugang dar. Zwar war das

operative Vorgehen – wie bei extraforaminalen Bandschei-

benvorfällen sehr oft – durch massive venöse Blutungen ge-

stört. Dennoch schreibt der Operateur eindeutig, dass kein

Bandscheibenvorfall vorlag.

Nach diesem Eingriff ging es der Patientin zunächst besser,

die Schmerzen ließen etwas nach, aber unter fortschreiten-

der Mobilisierung traten erneut Probleme im linken Knie

auf. Nun wurde orthopädischerseits eine Patellaverlagerung

diagnostiziert und eine Behandlung mit Kniebandagen und

krankengymnastischen Übungsbehandlungen empfohlen.

Einen Monat nach der primären Behandlung wurde die Pa-

tientin in eine – am Begutachtungsverfahren nicht beteiligte

– Rehabilitationsklinik verlegt. Von dort wurde sie nach fast

drei Wochen in die behandelnde Neurochirurgische Klinik

zurückverlegt, weil die Beschwerden im linken Bein weiter

zugenommen hatten. Man entschloss sich zu einer Elektro-

myographie, einer Myelographie und einer Post-

myelo-Computertomographie, ohne dass diese aufwändi-

gen – und im Falle der Myelographie invasiven – Unter-

suchungen wegweisende Befunde ergaben. Nachdem auch

eine erneute periradikuläre Therapie die Beschwerden nicht

besserte, wurde die Patientin noch einmal in der Orthopä-

dischen Klinik vorgestellt,wo schließlich achtWochen nach

dem akuten Ereignis eine Oberschenkelhalsfraktur links

diagnostiziert und operativ behandelt wurde.

Beurteilung

Das Besondere an diesem Fall ist –wie bereits einleitend er-

wähnt –, dass sich sowohl die erstaufnehmende Chirurgi-

sche Klinik als auch die weiterbehandelnde Neurochirurgi-

sche Klinik an der falschen Diagnose eines Bandscheiben-

vorfalles orientiert haben. Es war aus den Unterlagen nicht

nachvollziehbar, warum bei dem klinischen Bild eines aku-

ten Schmerzes im linken Bein primär an einen Bandschei-

benvorfall gedacht wurde, da zunächst Angaben über neuro-

logische Ausfälle völlig fehlten. Erst die neurochirurgische

Untersuchung nach drei Wochen zeigte ein Fehlen des Pa-

tellarsehnenreflexes, sodass zumindest eine neurologische

Ursache in Betracht gezogen werden musste. Dass die Pa-

tientin das linke Bein nicht bewegen konnte, wurde offen-

sichtlich als schmerzbedingt gewertet. Eine dringend gebo-

tene weiterführende klinische oder radiologische Untersu-

chung der Extremität wurde aber nicht durchgeführt, ob-

wohl die Ärzte der Neurochirurgischen Klinik offensichtlich

Zweifel an der Diagnose des Bandscheibenvorfalles hatten,

weshalb sie präoperativ noch die magnetische Resonanz-

tomographie veranlassten, dies mit dem ebenso unbedeuten-

den Befund bei LW3/4 links wie bei der drei Wochen zuvor

im primär aufnehmenden Krankenhaus durchgeführten

Computertomographie. Zu einem weiteren Fehlschluss

führte der Umstand, dass die Patientin nach der dann erfolg-

ten periradikulären Therapie beschwerdefrei war. Hierbei

wurde nicht bedacht,dass man durch die Injektion des Lokal-

anästhetikums die Schmerzleitung unterbrach.

Spätestens als der offensichtlich versierte Operateur bei dem

anschließenden Eingriff keinen Bandscheibenvorfall fand,

hätte an eine andere Ursache gedacht werden müssen, was

aber leider nicht geschah.

Die primäre Fehldiagnose und der nahezu bedingungslose

Glaube an die bildgebenden Befunde haben für die Patien-

Die verkannte Oberschenkelhalsfraktur

Weiterbehandelnder Arzt sollte Primärdiagnose Bandscheibenvorfall

dringend auf den Prüfstand stellen.