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Gutachtliche Entscheidungen
Hodentorsion
fühlte sich normal an; die Beschwerden waren noch auf den
Bauchraum projiziert.
Die komplette Verdrehung des linken Hodens wird mit über-
wiegenderWahrscheinlichkeit in den frühen Morgenstunden
des nächsten Tages eingetreten sein. Das folgt aus den doku-
mentierten Beschwerden, insbesondere dem um 7.20 Uhr
erhobenen Tastbefund und dem späteren pathologischen
Untersuchungsergebnis. Zu diesem Zeitpunkt bestand An-
lass zu sofortigemHandeln.Entweder hatte die Operation in
der chirurgischen Abteilung oder nach Überweisung in einer
Urologischen Klinik zu erfolgen.
Stattdessen wurde der Patient einer urologischen Fachpraxis
vorgestellt,was allein schon einen Zeitverlust bedeutete.Der
Facharzt fand sichere Anhaltspunkte für die Diagnose einer
Hodentorsion: Derber wenig druckdolenter linker Hoden,
ohne Pulsation. Da die Ultraschalluntersuchung der Nieren
beiderseits keinen Aufstau zeigte, war die zusätzlich vorge-
nommene Ausscheidungsurographie mit Darstellung der Nie-
ren und der ableitenden Harnwege überflüssig und brachte
eine weitere unnötige Verzögerung. Erst nach dieser Unter-
suchung nahm der Urologe mit seiner zutreffenden Diagno-
se telefonischen Kontakt zu einer Urologischen Klinik auf,
wo der Patient zu einem Zeitpunkt eintraf, der nach dem
späteren pathologischen Befund bei sofortiger Operation
zur Erhaltung des Hodens noch ausgereicht hätte. In der
Klinik wurde ungeachtet der gebotenen Dringlichkeit die
operative Behandlung erst mit vermeidbarer mehrstündiger
Verzögerung vorgenommen. Dieses Versäumnis führte zum
endgültigen Verlust des linken Hodens.
Zum Hinweis der Klinik auf das Fehlen eines Anästhesisten
bemerkte die Kommission, die Klinik habe schon gegen
11.30 Uhr von der Notwendigkeit einer Sofortoperation er-
fahren und damit rechtzeitig die Mitwirkung eines Anästhe-
sisten sicherstellen können. Für Notoperationen müsste stets
ein solcher Arzt in Bereitschaft sein. Falls tatsächlich wegen
außergewöhnlicher Umstände ein Anästhesist nicht zur
Verfügung gestanden hätte, wäre es Pflicht der Klinik gewe-
sen, den Patienten sofort in einer anderen Urologischen Kli-
nik oder Chirurgischen Klinik aufnehmen zu lassen.
In Übereinstimmung mit dem urologischen Fachsachverstän-
digen kam damit die Gutachterkommission zu dem Ergeb-
nis, dass vorwerfbare Behandlungsfehler der zuerst behan-
delnden Chirurgischen Klinik, sodann des niedergelassenen
Urologen und schließlich der Urologischen Klinik festzu-
stellen waren.
Ergänzend zum Thema
Da die Beschwerden, die auf eine akute Hodentorsion hin-
deuten, häufiger am frühen Morgen auftreten, gehört die
rechtzeitige zutreffende Beurteilung dieser Symptomatik zu
den Aufgaben, die vor allem auch im Notfalldienst von Ärz-
ten aller Fachrichtungen wahrzunehmen sind. Von der Gut-
achterkommission mussten bisher in 36 der 4.747 Verfahren
mit vorwerfbaren Behandlungsfehlern vermeidbare Dia-
gnosemängel festgestellt werden, die meist zum Verlust des
betroffenen Hodens führten. Diese Behandlungsfehler be-
trafen – unter Berücksichtigung von Fällen, in denen mehre-
re Fachgebiete beteiligt waren – Chirurgen (19-mal), Urolo-
gen (13-mal), Allgemeinmediziner (6-mal), Pädiater (2-mal),
Internisten (1-mal) und Gynäkologen (3-mal).
Herbert Weltrich und Herwarth Lent
Anmerkung
In einer Leserzuschrift des Direktors einer Klinik für Radiologie
wurde auf die Bedeutung bildgebender Verfahren (Sequenzszinti-
graphie, Magnetresonanztomographie) in der Differenzialdiagno-
se des „akuten Skrotums“ ergänzend hingewiesen.
Der zuständige Fachmediziner der Kommission äußerte in seiner
Antwort, dass diese diagnostischen Methoden zwar die Diagnose
stützen, aber nicht immer typische Befunde ergeben würden. Die
Diagnose einer akuten Hodentorsion sei in erster Linie eine klini-
sche, die – wenn vorhanden – ohne Zeitverlust durch einen Farb-
doppler ergänzt werden könne. Da die Veröffentlichung der Kom-
missionsentscheidung vorwiegend an den Arzt im Notdienst, der
allen Fachdisziplinen angehören kann, gerichtet sei, sei bewusst
auf die Empfehlung bildgebender Verfahren zur Diagnostik der Ho-
dentorsion verzichtet worden.