Background Image
Table of Contents Table of Contents
Previous Page  22 / 220 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 22 / 220 Next Page
Page Background

20

Gutachtliche Entscheidungen

Risiko- und Sicherungsaufklärung

Aus diesem Grund hat der Arzt vor Beginn einer solchen In-

filtrationstherapie nicht nur über den geplanten Eingriff,

sondern über seine typischen Risiken und möglichen Kom-

plikationen aufzuklären. Darüber hinaus war hier die Pa-

tientin über die wesentlich risikoärmeren Behandlungsal-

ternativen zu unterrichten. In Betracht kam die bereits er-

wähnte konservative Behandlung. Die Patientin konnte

glaubhaft machen, dass sie bei Kenntnis der Risiken und der

alternativen Therapiemöglichkeiten in die Infiltrationsthe-

rapie nicht eingewilligt hätte.

Der beschuldigte Arzt machte demgegenüber geltend, dass

ihm in seiner langjährigen Praxis bei der therapeutischen

Lokalanästhesie noch keine derartige Komplikation unter-

laufen sei.Die Injektion sei ausschließlich in den verspannten

Muskel rechts neben der Wirbelsäule geplant gewesen, was

einen Pneumothorax ausschließe. Über dieses Risiko hätte

deshalb nicht aufgeklärt werden müssen.

Die Gutachterkommission kam bei der Bewertung des Sach-

verhalts zu dem Ergebnis, dass sich bei der vom Arzt vorge-

nommenen paravertebralen Infiltration des Procain in den

behandelten Bereich das Risiko einer Perforation der nahe

gelegenen Pleura parietalis verwirklicht habe. Eine andere

Entstehungsursache sei bei dem engen zeitlichen Zusammen-

hang auszuschließen.

Allerdings konnte die Gutachterkommission hier nicht die

sichere Feststellung treffen, dass derArzt bei seinem Eingriff

nicht mit der gebotenen Sorgfalt vorgegangen ist. Nach sei-

ner Darstellung, der die Patientin nicht widersprochen hat,

ist die Injektionskanüle ganz langsam und betont vorsichtig

vorgeschoben worden. Die Gutachterkommission berücksich-

tigte hierbei weiter, dass von dem bei der Durchführung der-

artiger Injektionen besonders erfahrenen Arzt unwiderlegt

bisher kein Pneumothorax beobachtet worden ist. Sie konnte

unter den gegebenen Umständen und auch im Hinblick auf

die variable Dicke des Rückens imThorax-Bereich, die nach

Ultraschallmessungen um 27 bis 29 mm beträgt

(H. Brazke

u. a.: Verletzungen der ärztlichen Sorgfaltspflicht bei therapeu-

tischer Lokalanästhesie, DMW 1991 Jul 5; 116(27): 1051–4)

, ein

fahrlässigesVorgehen und die konkreteVermeidbarkeit nicht

sicher nachweisen. Insoweit war zwar kein ärztlicher Be-

handlungsfehler, wohl aber ein Aufklärungsmangel festzu-

stellen.

Fehlende Verhaltensinstruktion

Fehlerhaft war es,dass derArzt nach demEingriff, als die Pa-

tientin insbesondere über zunehmende Atemnot mit Reiz-

husten, Brustschmerzen und Beklemmungsgefühl klagte,

nicht sogleich die Möglichkeit eines iatrogenen Pneumotho-

rax in Betracht gezogen und keine unter diesen Umständen

angezeigte Röntgenaufnahme des Brustkorbs veranlasst hat.

Diese Aufnahme ist unter dieser Fragestellung in Exspirati-

on vorzunehmen,da sich einweniger ausgedehnter Pneumo-

thorax nur so darstellen lässt.

Die Tatsache, dass die Schmerzen im Brustkorb nicht sofort,

sondern erst nach und nach eintraten,entlastet nicht,da sich

ein iatrogener Pneumothorax häufiger langsam entwickelt

und zu seiner vollständigenAusprägung etliche Stunden, ge-

legentlich auch Tage braucht. Ausgenommen von dieser Re-

gel ist das wesentlich seltenere Ereignis eines Ventil- oder

Spannungspneumothorax mit rasch zunehmender Ruhe-

dyspnoe, bedingt durch eine innere Bronchusfistel mit kon-

tinuierlich ansteigendem Druck im betroffenen Pleuraraum

und durch Verdrängung von Herz und Mediastinum zur

Gegenseite. Unter derartigen Umständen ist eine umgehende

Entlastung des erhöhten Drucks im Pleuraraum dringend

erforderlich.

Der Arzt hätte im Übrigen schon am Tage des Eingriffs die

Patientin im Zusammenhang mit der Erörterung dieser

möglichen Komplikation darüber unterrichten müssen, bei

welchen Anzeichen sie sich unverzüglich wieder vorzustellen

habe. Fehlerhaft war deshalb nicht nur die Unterlassung einer

alsbaldigen Röntgenuntersuchung, sondern auch die unter-

lassene Verhaltensinstruktion. Beide Fehler führten zu einer

erheblichen Therapieverzögerung und damit zugleich zu ei-

ner vermeidbaren Verlängerung der Atemnot.

Da hier schon die Risikoaufklärung unzureichend und da-

mit die Einwilligung in die deshalb rechtswidrige Infiltrations-

behandlung unwirksamwar, haftet derArzt für den gesamten

durch den Pneumothorax entstandenenGesundheitsschaden.

Mängel bei der Sicherungsaufklärung

Vorwerfbare Behandlungsfehler wegen fehlender bzw. un-

zureichender Sicherungsaufklärung nehmen keine unbe-

deutende Rolle ein. Bis Ende 1999 hatte die Gutachterkom-

mission bei 48 Patienten Versäumnisse bei der Aufklärung

über die Notwendigkeit von Kontrollen bestimmter diagnosti-

scher Untersuchungen oder therapeutischer Maßnahmen

sowie deren Änderung zu beanstanden. In weiteren 25 Ver-

fahren wurde keine oder eine verspätete Benachrichtigung

der weiterbehandelnden Kollegen bzw. des Patienten, zum

Beispiel über ein nachgewiesenes malignes Tumorleiden,

festgestellt. In 1999 betrug derAnteil derartigerVersäumnis-

se 4 Prozent der festgestellten Behandlungsfehler.

Bislang wurde 91-mal eine unzureichende Risikoaufklärung

von der Gutachterkommission anerkannt, die eine Schadens-

ersatzpflicht des Arztes begründete. Nach einer Erhebung

für das Jahr 1999 wurde eine Aufklärungsrüge gegen 208

von 1.228 beschuldigten Ärzten erhoben. Diese wurde 44-mal

als berechtigt angesehen, davon in 20 Fällen neben einem

festgestellten Behandlungsfehler. Der Aufklärungsmangel

führte jedoch nur dann zur Haftung,wenn ein Gesundheits-

schaden eingetreten war und der Patient glaubhaft machen

konnte, die therapeutischen Maßnahmen bei sachgerechter

Aufklärung abgelehnt zu haben.

Herbert Weltrich und Herwarth Lent