

Gutachtliche Entscheidungen
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Versäumnisse bei einem „akuten Abdomen“
Erst am nächsten Morgen fand wegen des verschlechterten
Allgemeinzustandes eine weitere Röntgenkontrolle des Ab-
domens statt, dieVeranlassung zur Operation gab, die jedoch
schon am Vortage im Laufe des Nachmittags hätte durchge-
führt werden müssen. Ungeachtet der umfassenden frühzei-
tigen Orientierung durch den Hausarzt und aller klinischen
Hinweise wurde das Fortschreiten der sich im Bauchraum
ausbreitenden Peritonitis verkannt, weil es infolge schwer-
wiegender Versäumnisse und der fehlerhaften, die Be-
schwerdesymptomatik verschleiernden Gabe von Schmerz-
mitteln an der zwingend notwendigen fortlaufenden ärztli-
chen Kontrolle der abdominalen Befunde mangelte. So
wurde die – dann fachgerecht durchgeführte – Operation
um circa 16 Stunden vorwerfbar verzögert.
Der rechtzeitige Eingriff hätte lebensrettend sein können,
auch wenn dies nicht mit Sicherheit festgestellt werden
kann. Die freie Perforation des Dickdarmdivertikels hatte
zum Kotaustritt in die Bauchhöhle und damit zur raschen
Ausbreitung von hochtoxischen Bakterien geführt. Bei einer
einmal ausgebildeten schweren Sepsis sind trotz einer ziel-
gerichteten antibiotischen Therapie postoperativ letale Kom-
plikationen nicht immer zu verhindern. Ob eine – nach der
Dokumentation nicht erwogene – frühzeitige Relaparotomie
mit so genannter Etappenlavage den letalen Verlauf vermie-
den hätte, konnte mangels ausreichender Anhaltspunkte
von der Kommission nicht näher beurteilt werden. Sie war
jedoch der Ansicht, dass eine solche Rettungschance hätte
genutzt werden sollen.
Insgesamt bewertete die Gutachterkommission die stationä-
re chirurgische Behandlung als schwerwiegend (= grob) feh-
lerhaft.
Die Feststellung eines groben Behandlungsfehlers kann
nach der Rechtsprechung für die Frage, ob er den eingetre-
tenen Schaden verursacht hat, zur Umkehrung der Beweis-
last führen. Das bedeutet, dass in einem solchen Fall nicht
der Patient die Kausalität nachzuweisen
hat:Vielmehrist es
Sache der betroffenen Ärzte, den Nachweis zu führen, dass
der Gesundheitsschaden – hier sogar der Tod – nicht eine
Folge der ärztlichen Versäumnisse war,was bei dem geschil-
derten Sachverhalt kaum gelingen dürfte.
Ergänzend zum Thema
Die Verkennung einer Perforation von Sigmadivertikeln
musste von der Gutachterkommission in zahlreichen Fällen
als vorwerfbar fehlerhaft bewertet werden. Beteiligt waren
Chirurgen, Internisten, Allgemeinmediziner, aber in einzel-
nen Fällen auch Gynäkologen, Urologen und Orthopäden.
In nahezu jeder Fachdisziplin kann es sonach notwendig
werden, bei der Feststellung von Schmerzen in der linken
Bauchseite differenzialdiagnostisch an die Möglichkeit ei-
ner perforierenden oder bereits perforierten Divertikulitis
im Colon bzw. Sigma zu denken.
Zweimal gelang es vorwerfbar fehlerhaft nicht, bei der Ab-
domenübersichtsaufnahme („im Stehen“) sog. „freie Luft“
unter den Zwerchfellen von einem geblähten Colon zuver-
lässig abzugrenzen.Dadurch kam es zu unnötigen,vermeid-
baren Laparotomien.
In einem Fall wurde die Durchführung eines präoperativen
sog. Hebe- und Schwenkeinlaufs bei bereits bekannter
Sigmadivertikulitis und Hinweisen auf eine beginnende
Peritonitis beanstandet, weil hierdurch – ex ante – eine freie
Divertikelperforation hervorgerufen werden konnte und
auch wurde.
Bei einem Zustand nach Sigmaresektion wegen einer Diver-
tikulitis war eine bei Revisionslaparotomie wegen linkssei-
tiger Ober- und Mittelbauch-Druckschmerzen vorgenom-
mene komplette Adhäsiolyse nicht indiziert.
Einmal wurde unter dem Verdacht auf ein Colonkarzinom
ohne Sicherung der Diagnose eine Hemicolektomie mit
Hysterektomie und Adnektomie links vorgenommen. Tat-
sächliche Ursache der Beschwerden war ein perforiertes
Sigmadivertikel, das aufgrund unzureichender präoperati-
ver Untersuchungen nicht erkannt worden war.
Herbert Weltrich und Herwarth Lent