Background Image
Previous Page  164 / 258 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 164 / 258 Next Page
Page Background

162

Gutachtliche Entscheidungen

Die Haftung des Arztes wegen eines beim Patienten einge-

tretenen Gesundheitsschadens kann nicht nur aufgrund ei-

nes Behandlungsfehlers, sondern – trotz fachgerechter Be-

handlung – auch infolge eines Aufklärungsversäumnisses

begründet sein. Eine wirksame Einwilligung kann nach der

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur erteilt werden,

wenn der Patient im Vorfeld der Behandlung ordnungsge-

mäß über die Bedeutung und die Tragweite des bevorstehen-

den Eingriffes aufgeklärt worden ist.

Hinsichtlich des Umfangs, der Intensität und der Genauig-

keit derAufklärung lässt sich als Faustformel aufstellen, dass

umso strengere Maßstäbe an die Aufklärung zu stellen sind,

je weniger dringend/vital ein Eingriff indiziert ist. Geringe-

re Anforderungen sind an die Aufklärung zum Beispiel dann

zu stellen, wenn der Patient – wie im nachstehend geschil-

derten Fall –mit den Gefahren aufgrund eigenen Berufswis-

sens vertraut ist

(so zuletzt OLG Koblenz, VersR 2010, 629)

.

Sachverhalt

Der 55-jährige Antragsteller, ein praktizierender Facharzt

für Gynäkologie, der mit einerwesentlich jüngeren Frau ver-

heiratet ist, litt an einem bioptisch gesicherten, mittelgradig

differenzierten Adenokarzinom des Dickdarmes im Bereich

des rektosigmoidalen Übergangs. Als mögliche Komplika-

tion des absolut indizierten Eingriffs wurden im Aufklä-

rungsbogen unter anderem bleibende Potenzstörungen in-

folge einer Nervenschädigung erwähnt. Nach unproblema-

tischer Operation (offene anteriore Sigmarektumresektion

mit Descendorektostomie sowie Lymphadenektomie) stell-

te sich eine sexualmedizinische Störung in Form einer retro-

graden Ejakulation bei erhaltenem Erektionsvermögen her-

aus. Der Antragsteller warf dem behandelnden Arzt vor, die

aufgetretene Störung mit der Folge einer Infertilität sei auf

eine unsachgemäße Operation zurückzuführen. Man hätte,

obwohl es sich um ein Sigmakarzinom handelte, auch An-

teile des Rektums unnötig mitreseziert und tiefer abgetragen

als notwendig.

Bei der Aufklärung sei im Hinblick auf die möglichen Ner-

venschädigungen im kleinen Becken lediglich von Potenz-

störungen die Rede gewesen.Das betreffe nur Störungen der

Erektion, nicht aber die Anejakulation. Über das Risiko ei-

ner Infertilität sei er präoperativ nicht aufgeklärt worden,

andernfalls hätte er im Vorfeld der operativen Behandlung

und im Hinblick auf die nicht abgeschlossene Familienpla-

nung eine Kryokonservierung von Spermien vornehmen

lassen.

Gutachtliche Beurteilung

Die Gutachterkommission hat wie folgt Stellung genom-

men: Anhand der Lokalisation des Karzinoms im Bereiche

des rektosigmoidalen Überganges sei die offen durchgeführ-

te Sigmarektumresektion mit regionärer Lymphadenekto-

mie im Sinne der erforderlichen Radikalität mit ausreichen-

der Distanz nach oral und aboral kunstgerecht erfolgt, wie

auch am Resektat nachzuweisen war.

Die autonomen Beckennerven bestünden aus sympathi-

schen und parasympathischen Fasern. Der Verlust der sym-

pathischen Innervation (Grenzstrang Th12-L3, Plexus hypo-

gastricus) führe beim Mann zu Störungen der Ejakulation,

in erster Linie im Sinne einer sogenannten retrograden Eja-

kulation, eine Komplikation, die nach radikalen Sigma- und

Rektummalignomoperationen häufig auftrete und eine Im-

potentia generandi nach sich ziehe – eine Situation, die vor

allem bei nicht abgeschlossener Familienplanung problema-

tisch

sei.Ob

im Rahmen des Aufklärungsgesprächs auch der

Kinderwunsch angesprochen worden sei, sei aus den Unter-

lagen nicht zu ersehen.

Dem Operationsbericht sei nicht zu entnehmen, ob der be-

schuldigte Arzt eine Darstellung und/oder Schonung der

sympathischen Nervengeflechte vorgenommen hat. Eine

solche Schädigung habe während der Darstellung, Präpara-

tion und Versorgung der Arteria mesenterica inferior mit

konsekutiver Ablösung des Mesosigma samt Gefäß- und

Lymphstrang von den retroperitonealen Strukturen eintre-

ten können und stelle ein eingriffsimmanentes Risiko dar.

Ob der nachgewiesene Ausfall des Sympathicus jedoch im

direkten Zusammenhang mit dem Operationsakt oder aber

postoperativ infolge einer lokalen Infektion oder durch Nar-

benzüge entstanden sei, lasse sich nicht mit absoluter Be-

stimmtheit sagen. Anhaltspunkte für einen operationstech-

nischen Behandlungsfehler seien jedenfalls in diesem Zu-

sammenhang nicht festzustellen.

Der Dokumentation nach sei der Antragsteller über das ein-

griffsimmanente Risiko von bleibenden Potenzstörungen

aufgeklärt worden. Hierunter müssten sowohl die Impoten-

tia coeundi im Sinne des Unvermögens des Mannes, den

Geschlechtsverkehr regelrecht zu vollziehen, als auch die

Impotentia generandi im Sinne der Zeugungsunfähigkeit

oder Sterilität des Mannes verstanden werden. Dieser um-

fassende Hinweis auf Störungen der sexuellen Funktion sei

nicht nur auf die Möglichkeit von Erektionsstörungen zu

beziehen gewesen, sondern habe von demAntragsteller – als

Arzt – auch dahin verstanden werden müssen, dass es zum

Verlust der Ejakulationsfähigkeit kommen könne. Behand-

lungsfehler oder Aufklärungsmängel seien deshalb nicht

festzustellen.

Antonio Larena-Avellaneda, Volkmar Lent

und Ernst Jürgen Kratz

Haftungsrisiken bei Aufklärung über postoperative Potenzstörungen

Zeugungsunfähigkeit als mögliche Folge in Betracht ziehen