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Gutachtliche Entscheidungen
Die Haftung des Arztes wegen eines beim Patienten einge-
tretenen Gesundheitsschadens kann nicht nur aufgrund ei-
nes Behandlungsfehlers, sondern – trotz fachgerechter Be-
handlung – auch infolge eines Aufklärungsversäumnisses
begründet sein. Eine wirksame Einwilligung kann nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur erteilt werden,
wenn der Patient im Vorfeld der Behandlung ordnungsge-
mäß über die Bedeutung und die Tragweite des bevorstehen-
den Eingriffes aufgeklärt worden ist.
Hinsichtlich des Umfangs, der Intensität und der Genauig-
keit derAufklärung lässt sich als Faustformel aufstellen, dass
umso strengere Maßstäbe an die Aufklärung zu stellen sind,
je weniger dringend/vital ein Eingriff indiziert ist. Geringe-
re Anforderungen sind an die Aufklärung zum Beispiel dann
zu stellen, wenn der Patient – wie im nachstehend geschil-
derten Fall –mit den Gefahren aufgrund eigenen Berufswis-
sens vertraut ist
(so zuletzt OLG Koblenz, VersR 2010, 629)
.
Sachverhalt
Der 55-jährige Antragsteller, ein praktizierender Facharzt
für Gynäkologie, der mit einerwesentlich jüngeren Frau ver-
heiratet ist, litt an einem bioptisch gesicherten, mittelgradig
differenzierten Adenokarzinom des Dickdarmes im Bereich
des rektosigmoidalen Übergangs. Als mögliche Komplika-
tion des absolut indizierten Eingriffs wurden im Aufklä-
rungsbogen unter anderem bleibende Potenzstörungen in-
folge einer Nervenschädigung erwähnt. Nach unproblema-
tischer Operation (offene anteriore Sigmarektumresektion
mit Descendorektostomie sowie Lymphadenektomie) stell-
te sich eine sexualmedizinische Störung in Form einer retro-
graden Ejakulation bei erhaltenem Erektionsvermögen her-
aus. Der Antragsteller warf dem behandelnden Arzt vor, die
aufgetretene Störung mit der Folge einer Infertilität sei auf
eine unsachgemäße Operation zurückzuführen. Man hätte,
obwohl es sich um ein Sigmakarzinom handelte, auch An-
teile des Rektums unnötig mitreseziert und tiefer abgetragen
als notwendig.
Bei der Aufklärung sei im Hinblick auf die möglichen Ner-
venschädigungen im kleinen Becken lediglich von Potenz-
störungen die Rede gewesen.Das betreffe nur Störungen der
Erektion, nicht aber die Anejakulation. Über das Risiko ei-
ner Infertilität sei er präoperativ nicht aufgeklärt worden,
andernfalls hätte er im Vorfeld der operativen Behandlung
und im Hinblick auf die nicht abgeschlossene Familienpla-
nung eine Kryokonservierung von Spermien vornehmen
lassen.
Gutachtliche Beurteilung
Die Gutachterkommission hat wie folgt Stellung genom-
men: Anhand der Lokalisation des Karzinoms im Bereiche
des rektosigmoidalen Überganges sei die offen durchgeführ-
te Sigmarektumresektion mit regionärer Lymphadenekto-
mie im Sinne der erforderlichen Radikalität mit ausreichen-
der Distanz nach oral und aboral kunstgerecht erfolgt, wie
auch am Resektat nachzuweisen war.
Die autonomen Beckennerven bestünden aus sympathi-
schen und parasympathischen Fasern. Der Verlust der sym-
pathischen Innervation (Grenzstrang Th12-L3, Plexus hypo-
gastricus) führe beim Mann zu Störungen der Ejakulation,
in erster Linie im Sinne einer sogenannten retrograden Eja-
kulation, eine Komplikation, die nach radikalen Sigma- und
Rektummalignomoperationen häufig auftrete und eine Im-
potentia generandi nach sich ziehe – eine Situation, die vor
allem bei nicht abgeschlossener Familienplanung problema-
tisch
sei.Obim Rahmen des Aufklärungsgesprächs auch der
Kinderwunsch angesprochen worden sei, sei aus den Unter-
lagen nicht zu ersehen.
Dem Operationsbericht sei nicht zu entnehmen, ob der be-
schuldigte Arzt eine Darstellung und/oder Schonung der
sympathischen Nervengeflechte vorgenommen hat. Eine
solche Schädigung habe während der Darstellung, Präpara-
tion und Versorgung der Arteria mesenterica inferior mit
konsekutiver Ablösung des Mesosigma samt Gefäß- und
Lymphstrang von den retroperitonealen Strukturen eintre-
ten können und stelle ein eingriffsimmanentes Risiko dar.
Ob der nachgewiesene Ausfall des Sympathicus jedoch im
direkten Zusammenhang mit dem Operationsakt oder aber
postoperativ infolge einer lokalen Infektion oder durch Nar-
benzüge entstanden sei, lasse sich nicht mit absoluter Be-
stimmtheit sagen. Anhaltspunkte für einen operationstech-
nischen Behandlungsfehler seien jedenfalls in diesem Zu-
sammenhang nicht festzustellen.
Der Dokumentation nach sei der Antragsteller über das ein-
griffsimmanente Risiko von bleibenden Potenzstörungen
aufgeklärt worden. Hierunter müssten sowohl die Impoten-
tia coeundi im Sinne des Unvermögens des Mannes, den
Geschlechtsverkehr regelrecht zu vollziehen, als auch die
Impotentia generandi im Sinne der Zeugungsunfähigkeit
oder Sterilität des Mannes verstanden werden. Dieser um-
fassende Hinweis auf Störungen der sexuellen Funktion sei
nicht nur auf die Möglichkeit von Erektionsstörungen zu
beziehen gewesen, sondern habe von demAntragsteller – als
Arzt – auch dahin verstanden werden müssen, dass es zum
Verlust der Ejakulationsfähigkeit kommen könne. Behand-
lungsfehler oder Aufklärungsmängel seien deshalb nicht
festzustellen.
Antonio Larena-Avellaneda, Volkmar Lent
und Ernst Jürgen Kratz
Haftungsrisiken bei Aufklärung über postoperative Potenzstörungen
Zeugungsunfähigkeit als mögliche Folge in Betracht ziehen