

Risiko- und Sicherungsaufklärung
Aus diesem Grund hat der Arzt vor Beginn einer solchen In-
filtrationstherapie nicht nur über den geplanten Eingriff,
sondern über seine typischen Risiken und möglichen Kom-
plikationen aufzuklären. Darüber hinaus war hier die Pa-
tientin über die wesentlich risikoärmeren Behandlungsal-
ternativen zu unterrichten. In Betracht kam die bereits er-
wähnte konservative Behandlung. Die Patientin konnte
glaubhaft machen, dass sie bei Kenntnis der Risiken und der
alternativen Therapiemöglichkeiten in die Infiltrationsthe-
rapie nicht eingewilligt hätte.
Der beschuldigte Arzt machte demgegenüber geltend, dass
ihm in seiner langjährigen Praxis bei der therapeutischen
Lokalanästhesie noch keine derartige Komplikation unter-
laufen sei.Die Injektion sei ausschließlich in den verspannten
Muskel rechts neben der Wirbelsäule geplant gewesen, was
einen Pneumothorax ausschließe. Über dieses Risiko hätte
deshalb nicht aufgeklärt werden müssen.
Die Gutachterkommission kam bei der Bewertung des Sach-
verhalts zu dem Ergebnis, dass sich bei der vom Arzt vorge-
nommenen paravertebralen Infiltration des Procain in den
behandelten Bereich das Risiko einer Perforation der nahe
gelegenen Pleura parietalis verwirklicht habe. Eine andere
Entstehungsursache sei bei dem engen zeitlichen Zusammen-
hang auszuschließen.
Allerdings konnte die Gutachterkommission hier nicht die
sichere Feststellung treffen, dass derArzt bei seinem Eingriff
nicht mit der gebotenen Sorgfalt vorgegangen ist. Nach sei-
ner Darstellung, der die Patientin nicht widersprochen hat,
ist die Injektionskanüle ganz langsam und betont vorsichtig
vorgeschoben worden. Die Gutachterkommission berücksich-
tigte hierbei weiter, dass von dem bei der Durchführung der-
artiger Injektionen besonders erfahrenen Arzt unwiderlegt
bisher kein Pneumothorax beobachtet worden ist. Sie konnte
unter den gegebenen Umständen und auch im Hinblick auf
die variable Dicke des Rückens imThorax-Bereich, die nach
Ultraschallmessungen um 27 bis 29 mm beträgt
(H. Brazke
u. a.: Verletzungen der ärztlichen Sorgfaltspflicht bei therapeu-
tischer Lokalanästhesie, DMW 1991 Jul 5; 116(27): 1051–4)
, ein
fahrlässigesVorgehen und die konkreteVermeidbarkeit nicht
sicher nachweisen. Insoweit war zwar kein ärztlicher Be-
handlungsfehler, wohl aber ein Aufklärungsmangel festzu-
stellen.
Fehlende Verhaltensinstruktion
Fehlerhaft war es,dass derArzt nach dem Eingriff, als die Pa-
tientin insbesondere über zunehmende Atemnot mit Reiz-
husten, Brustschmerzen und Beklemmungsgefühl klagte,
nicht sogleich die Möglichkeit eines iatrogenen Pneumotho-
rax in Betracht gezogen und keine unter diesen Umständen
angezeigte Röntgenaufnahme des Brustkorbs veranlasst hat.
Diese Aufnahme ist unter dieser Fragestellung in Exspirati-
on vorzunehmen,da sich einweniger ausgedehnter Pneumo-
thorax nur so darstellen lässt.
Die Tatsache, dass die Schmerzen im Brustkorb nicht sofort,
sondern erst nach und nach eintraten,entlastet nicht,da sich
ein iatrogener Pneumothorax häufiger langsam entwickelt
und zu seiner vollständigenAusprägung etliche Stunden, ge-
legentlich auch Tage braucht. Ausgenommen von dieser Re-
gel ist das wesentlich seltenere Ereignis eines Ventil- oder
Spannungspneumothorax mit rasch zunehmender Ruhe-
dyspnoe, bedingt durch eine innere Bronchusfistel mit kon-
tinuierlich ansteigendem Druck im betroffenen Pleuraraum
und durch Verdrängung von Herz und Mediastinum zur
Gegenseite. Unter derartigen Umständen ist eine umgehende
Entlastung des erhöhten Drucks im Pleuraraum dringend
erforderlich.
Der Arzt hätte im Übrigen schon am Tage des Eingriffs die
Patientin im Zusammenhang mit der Erörterung dieser
möglichen Komplikation darüber unterrichten müssen, bei
welchen Anzeichen sie sich unverzüglich wieder vorzustellen
habe. Fehlerhaft war deshalb nicht nur die Unterlassung einer
alsbaldigen Röntgenuntersuchung, sondern auch die unter-
lassene Verhaltensinstruktion. Beide Fehler führten zu einer
erheblichen Therapieverzögerung und damit zugleich zu ei-
ner vermeidbaren Verlängerung der Atemnot.
Da hier schon die Risikoaufklärung unzureichend und da-
mit die Einwilligung in die deshalb rechtswidrige Infiltrations-
behandlung unwirksamwar, haftet derArzt für den gesamten
durch den Pneumothorax entstandenenGesundheitsschaden.
Mängel bei der Sicherungsaufklärung
Vorwerfbare Behandlungsfehler wegen fehlender bzw. un-
zureichender Sicherungsaufklärung nehmen keine unbe-
deutende Rolle ein. Bis Ende 1999 hatte die Gutachterkom-
mission bei 48 Patienten Versäumnisse bei der Aufklärung
über die Notwendigkeit von Kontrollen bestimmter diagnosti-
scher Untersuchungen oder therapeutischer Maßnahmen
sowie deren Änderung zu beanstanden. In weiteren 25 Ver-
fahren wurde keine oder eine verspätete Benachrichtigung
der weiterbehandelnden Kollegen bzw. des Patienten, zum
Beispiel über ein nachgewiesenes malignes Tumorleiden,
festgestellt. In 1999 betrug derAnteil derartigerVersäumnis-
se 4 Prozent der festgestellten Behandlungsfehler.
Bislang wurde 91-mal eine unzureichende Risikoaufklärung
von der Gutachterkommission anerkannt, die eine Schadens-
ersatzpflicht des Arztes begründete. Nach einer Erhebung
für das Jahr 1999 wurde eine Aufklärungsrüge gegen 208
von 1.228 beschuldigten Ärzten erhoben. Diese wurde 44-mal
als berechtigt angesehen, davon in 20 Fällen neben einem
festgestellten Behandlungsfehler. Der Aufklärungsmangel
führte jedoch nur dann zur Haftung,wenn ein Gesundheits-
schaden eingetreten war und der Patient glaubhaft machen
konnte, die therapeutischen Maßnahmen bei sachgerechter
Aufklärung abgelehnt zu haben.
Herbert Weltrich und Herwarth Lent
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Gutachtliche Entscheidungen