

Thorakale Schmerzen sind – für sich genommen – zunächst
wenig aussagekräftige Beschwerden. Da jedoch dabei un-
verzüglich akut lebensbedrohliche Erkrankungen ausge-
schlossen werden müssen, ist es Aufgabe einer genauen
Anamneseerhebung mit anschließender klinischer Unter-
suchung, das betroffene Organ näher einzugrenzen.
Sollte das Beschwerdebild auf eine Erkrankung des Herzens
hindeuten, sind vorrangige weiterführende diagnostische
Maßnahmen: die sofortige, im Zweifelsfall auch wiederholte
Ableitung eines Elektrokardiogramms (EGK), von dem zu-
erst infarkttypische Veränderungen zu erwarten sind, sowie
die Bestimmung so genannter herzspezifischer Enzyme.Die
Ergebnisse dieser Untersuchungen entscheiden dann über
die weitere Diagnostik und Therapie.
Bei der Beurteilung des nachfolgend geschilderten Sachver-
halts hat die Gutachterkommission schwerwiegende dia-
gnostische Versäumnisse feststellen müssen.
Der Sachverhalt
Aus den Krankenunterlagen des beschuldigten Allgemein-
mediziners und der nachbehandelnden Kliniken ergab sich
Folgendes:
Die 38-jährige Patientin suchte am Morgen des 8. Juli (Mon-
tag) den beschuldigten Arzt auf und klagte über Schmerzen
im oberen Bauchraum mit gürtelförmiger Ausstrahlung, die
seit demAbend des 5. Juli (Freitag) bestünden. Bei der Unter-
suchung stellte derArzt einen Blutdruck von 160/110 mmHg,
eine tachykarde Herzaktion – ohne Angabe der Frequenz –
und einen Druckschmerz im Epigastrium fest. Unter dem
Eindruck der bestehenden Adipositas (78 kg bei einer Größe
von 168 cm), des anamnestisch eruierten Konsums von täg-
lich 20 Zigaretten und der angeführten starken beruflichen
Inanspruchnahme äußerte der Arzt den Verdacht auf eine
Gastritis bzw. ein Ulcus und funktionelle Herzbeschwerden.
Am 10. Juli (Mittwoch) stellte er gastroskopisch ein kleines
präpylorisches Ulcus ventriculi fest. Bei einem Belastungs-
elektrokardiogramm (mit 50 Watt) am 12. Juli (Freitag) sei-
en – wie der Arzt angibt – Hinweise auf eine koronare Min-
derdurchblutung und/oder einen akuten Herzinfarkt nicht
erkennbar gewesen.Das EKG konnte von derGutachterkom-
mission nicht beurteilt werden, da es angeblich an das wei-
terbehandelnde Krankenhaus abgegeben worden ist. Dort
konnte es nicht ermittelt werden.
Unter demVerdacht auf ein Brustwirbelsäulensyndrom und
der Annahme funktioneller Herzbeschwerden hielt der Arzt
eine weiterführende kardiologische Diagnostik nicht für er-
forderlich. Der Patientin wurde eine Arbeitsunfähigkeit bis
zum 17. Juli bescheinigt.
Am 16. Juli stellte sich die Patientin erneut vor. In der Kartei-
karte ist vermerkt: „Bei längerer Belastung oder tiefem At-
men Druck in der Brust. Besprechung: Wirbelsäulensyn-
drom/Angina pectoris. Medikation: Gastronerton Lösung
50,0, 3 x 20 Tropfen. Facharzt Orthopädie.“
Die orthopädische Konsiliaruntersuchung ergab ein so ge-
nanntes oberes Brustwirbelsäulensyndrom und den Ver-
dacht auf einen beginnenden Bandscheibenschaden im Be-
reich der Halswirbelsäule C5/C6 bei Streckfehlhaltung.
Über den nächsten Arztbesuch am 22. Juli wurde vermerkt:
„Seit gestern Erbrechen, Hitzewallungen, Dauerschmerzen
im Epigastrium. Kein Auslöser bekannt. Keine Tage.“ Be-
fund: „Druckschmerz Epigastrium und parasternal.“ Dia-
gnose: „Funktionelle Abdominalbeschwerden.“ Therapie:
„1 Buscopan
®
und 1 MCP (Mitoclopramid) i. v..“
Die Patientin suchte wegen ihrer Beschwerden bereits am
nächsten Tag, dem 23.07., den Arzt erneut auf. In der Kartei-
karte heißt es:„Schmerzen retrosternal, Erbrechen, Husten,
Ranitic hilft nicht (?).“Als Befund ist eingetragen:„Cor: Puls
72/min, rhythmisch, Blutdruck 120/80, Lunge frei, Druck-
schmerzen im Epigastrium.“ Therapie: „Talcid
®
Suspensi-
on, Beutel Nr. 20 N1, Antra
®
20 Kapseln magensaftresistent
Nr. 15 N1, 1 Buscopan
®
und 1 MCP i. v..“
Über die erneute Vorstellung am 24. Juli ist dokumentiert:
„1 Buscopan
®
und 1 MCP i. v..“ Laboruntersuchungen vom
24. Juli ergaben unter anderem eine erhöhte BSG (46/
90 mm n.W.), eine Leukozytose von 19,5/nl und eine erhöh-
te SGOT von 70 µ U/ml. Die Kreatinphosphorkinase wurde
nicht bestimmt.
Bei der nächsten Untersuchung am 25. Juli bestand ein
„Druckschmerz paravertebral und links unter dem Rippen-
bogen.“ Diagnose: „Verdacht auf Leberschaden, Differen-
zialdiagnose Hepatitis.“ Unter Fortführung der analgetischen
Therapie veranlasste der Arzt eine Röntgenuntersuchung
des Thorax, die am 26. Juli links basale pneumonische Infil-
trate erkennen ließ. Dieser Befund war Anlass, die Patientin
unter der Diagnose „Pneumonie links“ in eine Medizinische
Klinik einzuweisen. Dort wurde noch am selben Tag unter
der Diagnose eines einige Tage alten ausgedehnten transmu-
ralen Vorderwandinfarktes sofort eine intensivmedizinische
Behandlung eingeleitet.
Eine Kontroll-Echokardiographie am 31. Juli zeigte unver-
ändert eine hochgradige Einschränkung der linksventriku-
lären Funktion und mutmaßlich eine kleine Dehiszenz im
Bereich der basisnahen Abschnitte des Ventrikelseptums mit
ausgeprägter Turbulenz im rechten Ventrikel. Daraufhin
wurde die Patientin am 1. August in eine kardiologische
Fachklinik verlegt.
Dort wurde zwar kein Ventrikelseptumdefekt festgestellt,
wohl aber die hochgradige Kontraktionsstörung des linken
Ventrikels bestätigt. Eine Herzkatheteruntersuchung am
9. August zeigte einen proximalen RIVA-Verschluss sowie
eine gedeckte Perforation eines großen Aneurysmas des
linken Ventrikels. Die Patientin wurde zur Bypassoperation
Diagnostische Versäumnisse bei einem Myokardinfarkt
Thorakale Schmerzen sind zunächst wenig aussagekräftig
26
Gutachtliche Entscheidungen