

Gutachtliche Entscheidungen
153
Die stets fortschreitende Entwicklung in der medizinischen
Diagnostik und Behandlung führt bisweilen zu der Frage,ob
und wann und unter welchen Voraussetzungen eine bisher
anerkannte diagnostische oder kurative Maßnahme nicht
mehr angewandt werden soll und stattdessen eine inzwi-
schen neu entwickelte andere Methode zu bevorzugen ist.
In einem von der Gutachterkommission zu beurteilenden
Fall ging es um die Frage, ob bei einer bereits mehrfach an
derWirbelsäule voroperierten Patientin nach erneutemAuf-
treten von Zervikobrachialgien mit Gangunsicherheit die
Durchführung einer Myelographie als erste diagnostische
Maßnahme durchgeführt werden durfte oder ob eine ma-
gnetische Resonanztomographie (MRT) als Methode der
Wahl dem geltenden medizinischen Standard entsprochen
hätte.
Die zunächst nur lumbale Myelographie mit wasserlösli-
chen Kontrastmitteln hatte seit 1969 einen wesentlichen
Fortschritt in der Bilddiagnostik spinaler Erkrankungen er-
geben. Die Myelographie ist allerdings wegen der damit ver-
bundenen Kontrastmitteleinbringung in den Subarachno-
idalraum eine invasive Untersuchungsmethode, die im
Lumbalbereich in aller Regel als Nebenwirkung nur Kopf-
schmerzen mit sich bringt, während Kontrastmittelunver-
träglichkeit, Arachnitiden und Infektionen selten sind.
Bei der Punktion des Subarachnoidalraumes im Bereich der
Halswirbelsäule gibt es zur Instillation des Kontrastmittels
zum einen die Möglichkeit der klassischen Subokzipital-
punktion, zum anderen den lateralen Zugang unter Durch-
leuchtungskontrolle zwischen dem 1. und 2. Halswirbel. Die
Tatsache, dass es dabei zu einer Schädigung des Rücken-
marks kommen kann, hat praktisch zum Verlassen der Me-
thode geführt. Im vorliegenden Fall hatte sich die Gutachter-
kommission damit auseinanderzusetzen, ob die Myelographie
im Zeitalter der MRT überhaupt noch ihren Stellenwert hat.
Fallschilderung
Die Patientin war in der gleichen Neurochirurgischen Kli-
nik, in der sie später auch in dem hier zu beurteilenden Fall
war, bereits im Jahre 2002 zunächst wegen einer Wirbelka-
nalstenose und eines Bandscheibenvorfalls an der Lenden-
wirbelsäule erfolgreich operiert worden. Im Februar 2006
folgte wegen einer zunehmenden zervikalen Myelopathie
eine Operation an der Halswirbelsäule, wobei die Band-
scheiben HW3/4, HW4/5 und HW5/6 operativ angegangen
und eine Distraktionsspondylodese mit PEEK-Cages erfolg-
reich durchgeführt wurden. Der Patientin ging es nach die-
ser Operation deutlich besser, bis sie Anfang 2007 erneute
Zervikalbrachialgien entwickelte und schließlichwegenGang-
unsicherheit mehrfach stürzte, was zwei Oberschenkelhals-
brüche zur Folge hatte, die operativ versorgt werden mussten.
Wegen der zunehmenden Gangunsicherheit wurde die in-
zwischen 71-jährige Patientin von ihrem Hausarzt unter der
Diagnose Peronaeusläsion links, Schwellung linkes Knie in
die Neurochirurgische Klinik eingewiesen und dort statio-
när aufgenommen.Der neurologische Aufnahmebefund war
mehr oder weniger diffus mit Kribbelparaesthesien in den
Armen und einer Schwäche beider Beine mit einer gewissen
Rechtsbetonung. Eine segmentale Zuordnung war nicht
möglich, die Muskeleigenreflexe an den Beinen waren nicht
auslösbar; die Patientin ist Diabetikerin.
Noch am Aufnahmetag wurde die Patientin einer Myelogra-
phie unterzogen,wobei die zervikale Punktion nicht gelang.
Es gelang jedoch, ein Kontrastmittel lumbal zu instillieren,
das sich aber nicht kranial in Richtung auf die Brust- und
Halswirbelsäule hochschaukeln ließ, sodass auch die post-
myelographisch durchgeführte Computertomographie kein
Kontrastmittel im zunächst interessierenden zervikalen Be-
reich zeigte. Der Patientin war zudem bei der Untersuchung
übel geworden.
Am Folgetag entwickelte sie eine Querschnittlähmung etwa
ab den thorakalen Segmenten 9 und 10. Die nun durchge-
führte MRT der gesamtenWirbelsäule ergab einen nicht er-
warteten Bandscheibenvorfall zwischen dem 9. und 10.
Brustwirbel. Dieser wurde mit einer klaren Indikation ope-
rativ angegangen und wegen der Rechtsbetonung der Quer-
schnittsymptomatik von rechts her operiert, wobei eine in
diesen Fällen übliche Costotransversektomie erfolgte, nach
der der Bandscheibenvorfall ausgeräumt werden konnte.
Der Erfolg stellte sich in den nächsten Tagen ein, die Patien-
tin konnte wieder laufen.
Aus letztlich nicht nachvollziehbaren Gründen entwickelte
die Patientin 13 Tage nach der erfolgreichen Operation er-
neut eine Querschnittsymptomatik, und es wurde folgerich-
tig mit klarer Indikation erneut operiert und nun der links-
seitige Restbandscheibenvorfall ausgeräumt. Obwohl auch
diese Operation entsprechend den medizinischen Standards
vorgenommen wurde, bildete sich die Querschnittlähmung
praktisch nicht mehr zurück.
Gutachtliche Beurteilung
In dem gutachtlichen Bescheid wird zunächst dargelegt, die
behandelnden Ärzte seien davon ausgegangen, dass bei der
imVorjahr schon einmal an der Halswirbelsäule erfolgreich
operierten Patientin erneut eine progrediente zervikale
Myelopathie vorliegen könnte. Die zunächst versuchte zer-
vikale Myelographie sei nicht gelungen, bei der anschließen-
den lumbalen Myelographie sei es der Patientin übel gewor-
den, die Instillation des Kontrastmittels sei zwar im lumba-
len Spinalkanal gelungen, jedoch sei eine Darstellung der
höheren Wirbelsäulenabschnitte nicht möglich gewesen.
Die am Folgetag sich entwickelnde Querschnittlähmung sei
nach magnetresonanztomographischem Nachweis eines
großen Bandscheibenvorfalls operativ richtig behandelt
worden und habe sich danach zurückgebildet.
Ist die Myelographie obsolet?
Diagnostik und Therapie nach dem zum jeweiligen Zeitpunkt geltenden
medizinischen Standard durchführen