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Gutachtliche Entscheidungen
und Schmerzreize. Ende November war nur noch eine vita
minima erhalten. Mit den Angehörigen wurde besprochen,
dass Reanimationsmaßnahmen nicht durchgeführt werden
sollten. Die Patientin blieb tief komatös, bis sie am 23. De-
zember verstarb.
Gutachtliche Beurteilung
Anfangs wurde die Patientin von dem Orthopäden zu 1) be-
handelt wegen Cervicobrachialgie. Seine Behandlungsmaß-
nahmen beschränkten sich auf chiro-therapeutische Be-
handlung, die richtig indiziert war und sachgerecht durch-
geführt wurde. Ein ärztlicher Behandlungsfehler ist demOr-
thopäden zu 1) nicht vorzuwerfen.
Die weitere Behandlung erfolgte durch den Orthopäden zu
2). Auch er behandelte die Patientin wegen Cervicobrachial-
gie mit schmerzstillenden und entzündungshemmenden
Medikamenten. Eine Lähmungssymptomatik trat während
dieser Zeit nicht auf. Bei vorübergehender Kraftlosigkeit in
den Händen veranlasste er eine neurologische Untersu-
chung, durch die jedoch eine cervicale Symptomatik ausge-
schlossen werden konnte.
Die Behandlungsmaßnahmen dieses Orthopäden entsprachen
nicht dem orthopädischen Standard und waren deshalb zu
beanstanden. Es war höchstgefährlich, eine mehr als drei-
monatige Dauerbehandlung mit fast täglichen Injektionen
von Diclofenac 75 mg und Dexamethason durchzuführen.
Der mitbehandelnde Arzt versuchte, ihn zu warnen, konnte
ihn aber telefonisch nicht erreichen. Der Arzt warnte auch
die Patientin selbst mehrmals vor dieserTherapie. Durch die
Diclofenac-Injektionen hat sich das behandlungstypische
Risiko eines NSAR-induzierten Ulcus ventriculi verwirk-
licht, festgestellt von den Internisten. Durch die nicht indi-
zierte Dexamethason-Behandlung zur Schmerzbekämp-
fung ist möglicherweise die immunologische Infektabwehr
beeinträchtigt und die Ausbreitung des von der Spondylo-
discitis C 2/3 ausgehenden Infekts verschleiert worden.
Weiterhin war diesem Arzt vorzuwerfen, dass er auf den ra-
diologischen Befundbericht vom 26. Mai mit der Verdachts-
diagnose einer Spondylodiscitis C 2/3 nicht adäquat reagiert
hat. Es genügte nicht, eine fachneurologische Untersuchung
zu veranlassen, vielmehr wären weitere diagnostische Maß-
nahmen wie z.B. Kernspintomographie erforderlich gewe-
sen. Die Unterlassung dieser Maßnahmen war als Befunder-
hebungsfehler zu werten. Ein solcher Fehler ist − anders als
ein Diagnoseirrtum − als ärztlicher Behandlungsfehler an-
zusehen mit der Folge, dass das Unterlassen weiterer diagnos-
tischer Maßnahmen dem Arzt als ärztlicher Behandlungs-
fehler vorzuwerfen war. Somit war die Behandlung durch
den Orthopäden zu 2) als fehlerhaft zu bewerten, denn Dexa-
methason-Behandlung zur Schmerzbekämpfung war nicht
indiziert und der Befunderhebungsfehler hätte ihm eben-
falls nicht unterlaufen dürfen. Jedenfalls in der Summe wa-
ren diese Fehler als schwerwiegende Behandlungsfehler zu
bewerten.
Lange Zeit wurde die Patientin von dem Weiterbildungs-
Assistenten der Allgemeinärztlichen Gemeinschaftspraxis
betreut und behandelt. Aufmerksam achtete dieser Arzt auf
jede Symptomänderung und reagierte darauf mit sachge-
rechter Therapie bzw. Anordnung fachärztlicher Zusatzun-
tersuchungen und schließlich der Einweisung ins Kranken-
haus zurWeiterbehandlung.Hervorzuheben sind die Bemü-
hungen dieses Arztes, den Orthopäden zu 2) vor der Fortset-
zung der fehlerhaften Schmerzbehandlung mit zahlreichen
Dexamethason-Injektionen und der Dauerbehandlung mit
zahlreichen Injektionen von Diclofenac (75 mg) zu warnen.
Ein ärztlicher Behandlungsfehler war den Ärzten der Allge-
meinärztlichen Gemeinschaftspraxis nicht vorzuwerfen.
Weiterer Verlauf
In der Medizinischen Klinik wurde die Patientin in der ers-
ten Augusthälfte behandelt zur Abklärung eines Verdachtes
auf Herzinfarkt und tiefe Beinvenenthrombose. Ein Herzin-
farkt konnte ausgeschlossen werden, eine tiefe Beinvenen-
thrombose wurde bestätigt. Weiterhin wurden festgestellt
ein Ulcus ventriculi (florides Stadium, Forest III) ohne Blu-
tungsstigmata.Hp–Test negativ, generalisierte Arteriosklero-
se mit Zustand nach aorto-bifemoralem Bypass bei periphe-
rer arterieller Verschlusskrankheit. Chronische obstruktive
Lungenerkrankung. Da eine neurologische Ausfallssympto-
matik während der stationären Behandlung nicht auftrat,
beschränkten sich die Ärzte auf eine orientierende neurolo-
gische Untersuchung.
Die Gesamtsymptomatik mit rezidivierenden Beschwerden
im Halswirbelsäulenbereich und entsprechender Ausstrah-
lung wurde entsprechend analgetisch behandelt.
Von dem radiologisch geäußerten Verdacht auf Spondylo-
discitis an derHalswirbelsäule konnten dieseÄrzte nichtswis-
sen,weil er erst amTage nach der Entlassung aus ihrer Klinik
bekannt wurde. Ebenso wenig ist ihnen ein Behandlungs-
fehler anzulasten, weil zeitnah zu der stationären Behand-
lung eine Verschlimmerung mit Querschnittssymptomatik
eintrat. Die Gangataxie und weitere neurologische Sympto-
me traten nicht während der Behandlung in der Klinik auf.
Diese kurz nach der Entlassung aus der Medizinischen Ab-
teilung I plötzlich auftretende Querschnittssymptomatik
wurde in der Neurochirurgie einschlägig operativ behandelt
mit operativer Entlastung eines epiduralen Infiltrates in
dem Segment C 2/3, in dem früher schon eine auf Spondylo-
discitis verdächtige Veränderung festgestellt, der Verdacht
aber nicht bestätigt worden war. Bei der von den Neurochir-
urgen durchgeführten Entlastungsoperation mit Resektion
des Wirbelkörpers C 3 und Cage-Implantation und vorderer
Plattenspondylodese konnten der Abszess an der Halswirbel-
säule ausgeräumt und die Eiterung zum Stehen gebracht wer-
den. Auch gingen die Symptome der Querschnittslähmung
etwas zurück und die Ateminsuffizienz ließ nach, jedoch nie
so vollständig, dass der Zustand der Patientin nachhaltig ge-
bessert werden konnte. Sie blieb trotz sachgerechter Be-
handlung multimorbide.Trotz der nachfolgend in der Quer-
schnittsabteilung durchgeführten sachgerechten Behand-
lung, die durchgehend dokumentiert ist und mit der die Ärz-
te auf jede sich anbahnende Veränderung adäquat reagiert
haben, gelang es wegen der einsetzenden Multimorbidität
nicht, die Gesundheitsstörungen so weit zu beherrschen,
dass das Ableben der Patientin hätte verhindert werden kön-
nen. Ein ärztlicher Behandlungsfehler war den Ärzten die-
ser Abteilung nicht vorzuwerfen.
Dietrich Schöllner und Lothar Jaeger
Arbeitsteilung entbindet nicht von Verantwortung