

154
Gutachtliche Entscheidungen
Die Entwicklung dieser Querschnittlähmung sei eindeutig
auf eine sogenannte spinale Einklemmung zurückzufüh-
ren, die dann eintrete, wenn postpunktionell noch Liquor
aus der Punktionsstelle der Dura mater in das umgebende
Gewebe sich entleert und es dadurch zu einem Tiefertreten
des Rückenmarks kommt. Dies bleibe normalerweise fol-
genlos, sei aber in diesem Fall, in dem man nicht mit der
Möglichkeit eines thorakalen Bandscheibenvorfalls gerech-
net habe, dahingehend deletär gewesen, dass es zu einer
Durchblutungsstörung des Rückenmarks mit der sich an-
schließend entwickelnden Querschnittlähmung gekommen
sei.
Obwohl die folgerichtig durchgeführte Operation zunächst
erfolgreich gewesen sei, habe sich nach zweiWochen erneut
eine Querschnittlähmung entwickelt. Die erneute Operati-
on habe bei fehlendem diagnostischem Nachweis sonstiger
Schädigungsfaktoren keine Besserung der Querschnittsym-
ptomatik mehr bewirkt. Man müsse davon ausgehen, dass
sich ein sogenanntes Arteria spinalis anterior-Syndrom ein-
gestellt habe, wodurch es zu einer Durchblutungsstörung
des Rückenmarks mit dem klinischen Bild der Querschnitt-
lähmung gekommen sei. Möglicherweise sei diese durch die
diabetische Stoffwechsellage der Patientin begünstigt wor-
den.
Abschließend stellt der gutachtliche Bescheid fest, dass die
durch die Myelographie bedingte spinale Einklemmung die
Irreversibilität der Querschnittlähmung begünstigt habe.
Nachdem bei der Patientin keine Hinderungsgründe für die
Durchführung einer MRT (Metall, Schrittmacher, Klaustro-
phobie) vorgelegen hätten, sei eindeutig festzustellen, dass
vor der Durchführung der invasiven Untersuchung in Form
der Myelographie zunächst eine MRT der gesamtenWirbel-
säule, die auch ambulant hätte vorgenommen werden kön-
nen, grundsätzlich zu fordern gewesen wäre. Eine invasive
Untersuchung wie die Myelographie dürfe erst dann durch-
geführt werden, wenn andere, nicht invasive Verfahren kei-
nen verwertbaren Befund erbracht hätten. Die Durchfüh-
rung der Myelographie sei daher in der heutigen Zeit als Be-
handlungsfehler zu bewerten und habe die Querschnittläh-
mung begünstigt.
Folgerungen
Die vorstehend dargestellte Entscheidung bietet Anlass dar-
an zu erinnern, dass der Arzt verpflichtet ist, Diagnostik und
Therapie nach dem im jeweiligen Zeitpunkt geltenden me-
dizinischen Standard durchzuführen, auch wenn spezielle,
den Einzelfall betreffende Richtlinien oder Leitlinien nicht
existieren. Der medizinische Standard entspricht dem gesi-
cherten Stand der medizinischen Wissenschaft, der ärztli-
chen Erfahrung und der anerkannten medizinischen Praxis.
Für den vorliegenden Fall war von Bedeutung, dass zwar die
primäre Durchführung einer Myelographie seit über 30 Jah-
ren die bewährte und allgemein anerkannte Methode zur
Diagnose spinaler Erkrankungen gewesen war, inzwischen
jedoch als weitere Methode die MRT zur Verfügung stand.
Während die Myelographie wegen der damit verbundenen
Kontrastmitteleinbringung eine invasive Untersuchungsme-
thode mit entsprechendem Gefährdungspotential darstellt,
entfällt bei der neueren Methode die invasive Komponente,
sodass die damit verbundenen Risiken erheblich vermindert
sind. Die MRT bringt daher sowohl dem Patienten als auch
dem behandelnden Arzt Vorteile und ist auch im Ergebnis
meist der alten Methode überlegen. Sie ist zudem seit Jahren
wissenschaftlich anerkannt und unumstritten und steht in-
zwischen überall zur Verfügung. Bei der Diagnose spinaler
Erkrankungen sollte sie daher, wenn keine Hinderungs-
gründe vorliegen, in jedem Fall als primäres Untersuchungs-
verfahren angewandt werden.Dies entspricht der anerkann-
ten medizinischen Praxis und Erfahrung. Dagegen versto-
ßen zu haben, musste daher als Behandlungsfehler gewertet
werden.
Michael Schirmer und Erwin Wolf
Ist die Myelographie obsolet?