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Gutachtliche Entscheidungen
Versäumnisse bei der Diagnose des Harnblasenkarzinoms
scheidungsurographie war nur eingeschränkt zu beurteilen.
Eine Harnblasenspiegelung wurde geplant, aber nicht
durchgeführt.
Bei vier weiteren Konsultationen im Februar wegen wieder-
kehrender Schmerzen bei Erythrozyt- und Leukozyturie
wurden Nitrofurantoin und ein Schmerzmittel verordnet.
Es wurde eine Zystoskopie nach Beseitigung der Harninfek-
tion empfohlen. Bei drei Konsultationen im März ergab sich
eine anhaltende Erythrozyt-, Leukozyt- und Nitriturie. In
der Karteikarte wurde vermerkt, dass die Patientin die vor-
geschlagene Zystoskopie nicht gewünscht habe; eine dies-
bezügliche Sicherungsaufklärung über die Notwendigkeit
der Untersuchung und die möglichen Folgen ihrer Unterlas-
sung ist nicht dokumentiert. Es wurde weiter Nitrofurantoin
als Langzeittherapie verordnet.
Vom Februar bis Mai des Folgejahres bestanden die Erythro-
zyt-, Leukozyt- und Nitriturie bei zwölf Konsultationen fort.
Die medikamentöse Therapie wurde unverändert fortge-
setzt.
Ab Anfang Mai wechselte die Patientin in die Behandlung ei-
nes anderen Urologen. Bei einer Harnblasenspiegelung mit
Gewebsentnahme wurde ein Harnblasenkarzinommit Mus-
kelinfiltration (pT2 G2–3) nachgewiesen. Mitte Juli erfolgte
deshalb die radikale Zystektomie mit Anlage eines Ileum-
Conduits. Ende Juli war wegen Anastomoseninsuffizienz ei-
ne Relaparatomie erforderlich.
Im November des nächsten Jahres wurden Tumorrezidive
im kleinen Becken und Knochenmetastasen festgestellt. Im
Dezember erlitt die Patientin einen paralytischen Ileus.
Sie verstarb im Februar des nächsten Jahres infolge ihres
Tumorleidens.
Gutachterliche Beurteilung
Karzinome der Harnblase (in etwa 97 Prozent urothelial, in
etwa 2 Prozent plattenepithelial, in etwa 1 Prozent drüsig so-
wie in etwa 1 Prozent sekundär infiltriert) wachsen bei ho-
her Differenzierung überwiegend oberflächlich, bei mäßi-
ger bis geringer Differenzierung zunehmend invasiv.
Ihre häufigsten Symptome sind: eine „schmerzlose“ Makro-
hämaturie (in 70 bis 80 Prozent), eine chronische Miktions-
störung sowie eine rezidivierte „Harninfektion“. Vielfach
bestehen lediglich eine Erythrozyturie, Leukozyturie
und/oder eine Nitriturie. In fortgeschrittenen Stadien
kommt es zu Unterbauch- und Flankenschmerz, Nieren-
versagen und Niereninsuffizienz, Anämie, Kachexie und
Knochenschmerz.
Insbesondere eine Harnblutung ist bei Betroffenen im 5. bis
9. Lebensjahrzehnt und/oder mit Risikofaktoren (Kanzero-
genexposition durch Tabakrauch, Industrieemissionen,
Analgetika-Abusus) solange karzinomverdächtig, bis dies
ausgeschlossen ist.
Hierzu eignen sich bildgebendeVerfahren teils wegen gerin-
ger Sensitivität (Ultraschalluntersuchung), teils wegen er-
heblicher Strahlen- und Kostenbelastung (Ausscheidungs-
urographie und Zystographie, Computertomographie und
Kernspintomographie) nur eingeschränkt oder gar nicht.
Mit einer zytologischen Untersuchung wären bis zu 60 Pro-
zent der höher differenzierten und bis zu 95 Prozent der
niedriger differenzierten Tumoren nachweisbar. Andere
„Tumormarker“ haben sich noch nicht bewährt. Die
sicherste Methode ist die Sichtuntersuchung (Zystoskopie)
der Harnblase.
Sowohl in dem ersten als auch in dem zweiten dargestellten
Sachverhalt bestanden typische Symptome eines Harn-
blasenkarzinoms: Rezidivierende bzw. persistierende Blut-
beimengungen (makro- bzw. mikroskopisch) und Entzün-
dungszeichen des Harns bei gestörter bzw. schmerzhafter
Harnblasenfunktion. In beiden Fällen wurde von den be-
handelnden Urologen eine bildgebende Diagnostik ohne
klärendes Ergebnis durchgeführt. Die nichtinvasive Zytolo-
gie sowie die „invasive“ Zystoskopie wurden dagegen unter-
lassen. Im zweiten Fall vermerkte der Urologe zwar deren
Ablehnung durch die Patientin, versäumte es aber, eine
Sicherungsaufklärung vorzunehmen.
In beiden Fällen behandelten die Urologen typische Symp-
tome eines Harnblasenkarzinoms über etwa 1¼ Jahre als ei-
genständige Krankheiten, im ersten Fall als rezidivierende
Prostatitis, ohne Beweissicherung durch eine Zwei- oder
Drei-Gläser- Probe, im zweiten Fall als rezidivierende Harn-
infektion, ohne Nachweis ihrer Ursache. In beiden Fällen
wurden gutachterlichweder der fachliche Standard noch die
erforderliche Sorgfalt für gewahrt erachtet. Als Folge der
Versäumnisse, die im ersten Fall als schwerwiegend gewertet
wurden, sind die Therapieaussichten durch die Diagnose-
verschleppung verschlechtert worden.
Volkmar Lent, Friedrich Baumbusch, Josef Hannappel
und Lothar Jaeger