

Bei verletzungs- oder operationsbedingter Ruhigstellung der
Beine ist bis zur vollständigen Mobilisierung des Patienten
in aller Regel eine Thromboseprophylaxe beispielsweise mit
Heparin indiziert. Der erwiesene Nutzen dieser Therapie
überwiegt nach Ausschluss etwaiger Gegenanzeigen die
möglichen schädlichen Nebenwirkungen des Heparins bei
weitem. Von besonderer Bedeutung kann hier – neben Blu-
tungen wegen der Herabsetzung der Blutgerinnungsfähig-
keit – der Abfall der Thrombozytenzahl im Blut sein. Da He-
parin der hierfür auslösende Faktor ist, spricht man von der
Heparin-induzierten (auch -assoziierten) Thrombozyto-
penie (HIT), wobei zwei unterschiedliche Verlaufsformen
auftreten können:
HIT- I
Hier zeigt sich der Thrombozyten-Abfall in den ersten Stun-
den bis Tagen nach Therapiebeginn,wobei die Thrombozyten
selten unter 100 G/l abfallen (normal: 140 bis 440 G/l) und
sich innerhalb weniger Tage wieder erholen, und zwar auch
bei Fortsetzung der Heparin-Prophylaxe. Da bei der HIT-I
keine Komplikationen auftreten,bedarf sie keiner spezifischen
Therapie. Die Inzidenz mit erhöhter Aggregation aktivierter
Thrombozyten und nachfolgendem geringen Abfall ihrer
Zahl wird in der Literatur mit bis zu 10 Prozent angegeben. *
HIT-II
Demgegenüber entwickeln sich bei der HIT-II schwerwie-
gende arterielle und venöse Gefäßverschlüsse durch Throm-
bozyten-Aggregate, das heißt Thrombosen mit der Gefahr
des Verlustes von Extremitäten oder des Versagens verschie-
dener Organe. Die Inzidenz der HIT-II wird bei Gabe von
Heparin mit 0,5 bis 5 Prozent angegeben. Wegweisend ist
der starke Abfall der Thrombozyten auf meist unter 100 G/l
und oft bis unter 50 G/l fünf bis vierzehn Tage nach Beginn
der Therapie. Die Thrombozyten können auf weniger als
50 Prozent des Ausgangswertes abfallen, so dass dessen Be-
stimmung vor Beginn der Heparin-Therapie erforderlich ist.
Regelmäßige Kontrolle der Thrombozyten
Nach Beginn der Heparin-Therapie gilt nach der Literatur
die Bestimmung der Thrombozyten zwischen dem dritten
und fünften Tag und dann zweimal proWoche während der
ersten drei Wochen als Standard, um deren etwaigen Abfall
so früh wie möglich erfassen zu können. Im Falle einer Re-
Exposition mit Heparin sollen die Thrombozyten vom ers-
ten Tag an bestimmt werden.Der klinische Verlauf der mög-
licherweise schwerwiegenden Komplikationen hängt von
der rechtzeitigen Diagnose und Umstellung der Therapie ab.
Der Sachverhalt
Die Gutachterkommission hatte vor einiger Zeit einen Sach-
verhalt zu beurteilen, der sich aufgrund der Krankenunter-
lagen der beschuldigten orthopädischen Klinik und der nach-
behandelnden Kliniken folgendermaßen darstellte:
Die 44-jährige Patientin wurde am 2.April in der beschuldig-
ten Klinik operiert.Die fachgerecht durchgeführte Laminek-
tomie in Höhe L5 mit kompletter Dekompression der abge-
henden Nervenwurzeln und dorsaler Stabilisierung durch
postero-laterale Fusion der Lendenwirbelkörper verlief ohne
Komplikationen.
Wegen des postoperativen Thromboserisikos, gesteigert
durch Adipositas (Gewicht 98 kg, Körpergröße 171 cm), wur-
de eine Thromboseprophylaxe mit 12500 E Heparin begon-
nen und ab dem zweiten postoperativen Tag mit 3 x 7500 E
täglich fortgeführt, bei einem normalen praeoperativen
Blutgerinnungsstatus. Am 27. März betrugen die Thrombo-
zyten 303 G/l, am 2. April = 214 G/l, am 3. April = 223 G/l.
Bei zunächst unauffälligem postoperativen Verlauf klagte
die Patientin ab 10. April über Rücken-, Kopf- und Bein-
schmerzen, am 12.April über ein Ziehen im linken Bein dor-
sal bis zur Wade, am 13. April vor allem auch beim Aufste-
hen aus dem Sitzen, am 14. April beim Gehen. Ab 16. April
traten „ein schlappes Gefühl“, Schwindel und Atemnot
auf. Das Blutbild ergab am 15. April eine Anämie (Erythro-
zytenzahl = 2,79 Mill/mm
3
, Hämoglobin = 8,2 g/dl, Hämato-
krit = 24,6 vol %) und eine Thrombozytopenie von 38 G/l.
Die am 19.April wiederholte Kontrolle zeigte 3,38 Mill/mm
3
Erythrozyten, ein Hämoglobin von 10,1 g/dl und 62 G/l
Thrombozyten.
Dringender Verdacht auf HIT-II
Noch am 19.April (Freitag) wurde ein internistischer Konsi-
liarius mit der Frage „Embolisches Geschehen“ hinzugezo-
gen. Bei dieser Gelegenheit klagte die Patientin über seit drei
bis vier Tagen bestehende Belastungsatemnot und Schwin-
del besonders beim Aufstehen. Ergebnis der Untersuchung:
„Embolie eher unwahrscheinlich“, aber „Verdacht auf He-
parin-assoziierte Thrombozytopenie“. Empfehlung: Weite-
re Kontrolle der Thrombozytenzahl, Röntgenuntersuchung
des Thorax, EKG, bei Zunahme der Beschwerden und un-
auffälligem Lungenbefund Lungen-Szintigraphie ratsam.
Röntgenologisch zeigte sich gegenüber den unauffälligen
Vorbefunden vom 20. März in Projektion auf das rechte
Mittelgeschoss eine unscharfe Verschattung. Das EKG
(22. April, Montag) ließ gegenüber dem Ausgangs-EKG Ver-
änderungen erkennen, die einer akut vermehrten Rechts-
herzbelastung, wie zum Beispiel im Rahmen einer Lungen-
embolie, entsprechen konnte. Bei fortbestehenden Atembe-
schwerden ergab die Lungenperfusions-Szintigraphie am
22. April Ausfälle im rechten Lungenoberlappen als Aus-
druck multipler Lungenembolien.
Zur Diagnostik der Heparin-induzierten Thrombozytopenie
Zwei unterschiedliche Verlaufsformen können auftreten
* A.Greinacher, Heparin-induzierte Thrombozytopenien. Internist 37 (1996) S. 1172–1178
Gutachtliche Entscheidungen
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