

In der Praxis der Gutachterkommission sind nicht selten Be-
handlungsfehler bei ambulanten Untersuchungen festzu-
stellen, die auf unzureichend ermittelter Anamnese beruhen
und zu mangelhaften differenzialdiagnostischen Überlegun-
gen führen. Dies gilt auch für die Ambulanzen in Kranken-
häusern. Es werden dort zuweilen nur begrenzt erfahrene
Ärzte eingesetzt, deren Aufgabe es zunächst ist, die Anamnese
zu erheben und erste Untersuchungen vorzunehmen.
Hierbei ist das Vorbringen der Patienten im Einzelnen zu
berücksichtigen. Gegenstand der Befragung sollten das ge-
samte Spektrum der konkreten Beschwerden unter differen-
zialdiagnostischen Gesichtspunkten und der bisherige Ab-
lauf der Erkrankung sein. Die Schilderung des Patienten ist
ggf. durch gezieltes Nachfragen zu ergänzen, da dieser das
für die ärztliche Diagnose Wesentliche oft nicht erkennen
kann.
Nach zu dokumentierender Anamnese mit anschließender
Untersuchung folgen Überlegungen zur Diagnose der vor-
liegenden Symptomatik, in die je nach Lage des Falles wei-
tere Ärzte – ggf. der Ober- oder Chefarzt – einzubeziehen
sind, ehe eine Entscheidung zur Entlassung des Patienten
mit Hinweisen (Sicherungsaufklärung!) oder zu seiner sta-
tionären Aufnahme mit eventuell sofort einzuleitenden wei-
teren diagnostischen und/oder therapeutischen Maßnahmen
getroffen wird. Hierzu die Darstellung eines kürzlich von
der Gutachterkommission beurteilten praktischen Falles:
Der Sachverhalt
Aus den Krankenunterlagen des betroffenen Krankenhau-
ses und der nachbehandelnden Kliniken ergab sich Folgen-
des: Die 37-jährige Patientin stellte sich um 14:15 Uhr in der
Inneren Ambulanz des Krankenhauses vor. Sie gab an, dass
sie am Vormittag gegen 10:30 Uhr für eine Minute nicht
mehr habe sprechen können.Außerdem habe sie keine Kon-
trolle über ihre linke Hand gehabt. Zwanzig Minuten später
habe sich dieses Ereignis wiederholt. Zudem habe sie am
Vortage rechtsseitige Kopfschmerzen bekommen. Außer-
dem seien am Vormittag des Vortages plötzlich Schmerzen
im Bereich der rechten Halsseite aufgetreten, die im Laufe
des Tages zugenommen hätten.
Die mitgeteilten Erscheinungen wurden mangels Befragung
der Patientin nicht näher beschrieben, insbesondere wurde
nicht angegeben, dass die Schmerzen an der Halsseite bei ei-
ner Kraftübung des rechten Armes in einem Body-Building-
Center eingetreten seien.
Die Untersuchung der Patientin durch den in der Kranken-
hausambulanz tätigen Assistenzarzt ergab imWesentlichen:
Pupillenreaktion unauffällig, Muskeleigenreflexe seiten-
gleich, keine motorischen Ausfälle. Von der vorübergehen-
den Kraftlosigkeit der linken Hand war lediglich ein Krib-
beln im Bereich des dritten Fingers rechts zurückgeblieben.
Pulsfrequenz, peripherer Pulsstatus und ein Auskultations-
befund über die extracraniellen Halsgefäße sind nicht doku-
mentiert. In einer späteren Stellungnahme des Arztes gegen-
über der Gutachterkommission wurde mitgeteilt, dass sich
keine Strömungsgeräusche über den Carotiden, keine Re-
flexdifferenzen oder pathologische Reflexe und keine sons-
tigen Defizite gefunden hätten.
Nach der Untersuchung telefonierte der Arzt mit dem dienst-
habenden Arzt einer Neurologischen Universitätsklinik. Die
– nicht näher dokumentierte – Rücksprache führte zu der
Auffassung, dass von der Diagnose einer Cephalgie im Sin-
ne einer Migräne mit fokaler Begleitsymptomatik ausgegan-
gen werden könne, welche die sofortige Vorstellung in der
Universitätsklinik nicht erfordere.
Der Assistenzarzt empfahl im der Patientin mitgegebenen
Kurzarztbrief an den Hausarzt die ambulante neurologische
Diagnostik einschließlich Doppler-Sonographie und Com-
putertomographie. Ob und mit welchem Nachdruck diese
Untersuchungen der Patientin nahegelegt wurden, ist nicht
dokumentiert. Die Patientin hat nach ihrer Schilderung le-
diglich den Hinweis erhalten, dass sie sich beim Auftreten
von Lähmungserscheinungen unmittelbar in der Neurologi-
schen Universitätsklinik vorstellen solle.
Linksseitige Parese mit Aphasie
Zwei Tage später erwachte die (linkshändige) Patientin mit
einer Parese des linken Armes. Wenig später traten eine
Lähmung des linken Beines und eine fortschreitende Sprach-
störung auf. Nach erneuter ambulanter Vorstellung in dem
beschuldigten Krankenhaus wurde die nicht geh- und steh-
fähige Patientin unter dem Bild einer linksseitigen Parese
mit Aphasie infolge einer Ischämie sogleich in die Neurolo-
gische Universitätsklinik verlegt.
Dort wurde nach eingehenden Untersuchungen unter der
Diagnose „embolisch bedingte Infarkte nach traumatischer
Carotis-Dissektion“ eine Antikoagulation durch intravenöse
Heparin-Therapie begonnen. Nach vierwöchiger stationärer
Behandlung folgte eine mehrmonatige stationäre bzw. am-
bulante Rehabilitationsbehandlung. Während sich die sen-
somotorische Halbseitensymptomatik zurückbildete, ver-
blieben deutliche neuropsychologische Defizite im Sinne
von Störungen bei den verbalen und schriftsprachlichen Leis-
tungen, der Wortflüssigkeit, Konzentration und Lernfähig-
keit.
Gutachtliche Beurteilung
Die Gutachterkommission nahm zum Sachverhalt auf der
Grundlage eines neurologischen Fachsachverständigen-
Gutachtens imWesentlichen wie folgt Stellung:
Die von der Patientin in der Ambulanz des beschuldigten
Krankenhauses geschilderte Symptomatik – plötzlich aufge-
tretene, wenn auch nur eine Minute betragende und dann
sich wiederholende Sprechunfähigkeit mit vorübergehen-
der Kraftlosigkeit der linken Hand und nach starken rechts-
seitigen Kopfschmerzen am Vortage – musste an die Mög-
Differenzialdiagnostik bei cerebraler Symptomatik
Diagnostische Klärung von Krankheitszeichen, die auf eine cerebrale Ursache hindeuten
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Gutachtliche Entscheidungen