

Vermeidbare Fehler bei therapeutischen Infiltrationen
44
Gutachtliche Entscheidungen
die Komplikation eines iatrogenen Pneumothorax trotz al-
ler Vorsicht und Sorgfalt nicht immer sicher vermeidbar sei.
Dagegen bejahte die Kommission die Frage der Kausalität.
Der beschuldigte Arzt hatte im Kommissionsverfahren vor-
tragen lassen, er habe bei den Injektionen eine Kanüle „18“
benutzt, die nur eine Länge von 23 mm habe, so dass eine
solche Kanüle die Verletzung nicht habe verursachen kön-
nen. Die Kommission hielt dem entgegen, es sei nicht ausge-
schlossen, dass bei der Patientin die Distanz zwischen Rü-
ckenoberfläche und Pleura pulmonalis im Thoraxbereich
durchaus geringer sein könnte. Der enge zeitliche Zusam-
menhang zwischen Infiltration mit Hustenreiz, einem typi-
schen Symptom für eine Pleuraläsion, und der unstrittigen
Feststellung eines Pneumothorax spreche jedenfalls für ei-
nen iatrogenen artefiziellen Pneumothorax.
Die Tatsache, dass sich die Komplikation erst nach einigen
Stunden bemerkbar gemacht habe, bedeute keinen Wider-
spruch. Ein iatrogener Pneumothorax könne sich – ab-
hängig vom Ausmaß der Pleuraverletzung – langsam ent-
wickeln und brauche unter Umständen bis zu 24 Stunden,
ehe er zu klinischen Symptomen führe wie Hustenreiz,
Brustschmerzen, Atemnot und Beklemmungsgefühlen.
Wenn diese Anzeichen schon während oder unmittelbar
nach der Infiltration aufträten – wie bei der Patientin in
Form eines akuten Hustenanfalls –, dann sei eine radiolo-
gische Kontrolle angezeigt, um die Komplikation und deren
Ausmaß festzustellen.
Falls ein Pneumothorax nicht sofort erkennbar sei, müsste
die Röntgenkontrolle bei weiter bestehendemVerdacht wie-
derholt werden. Wenn die Lunge zu mehr als etwa 20 Pro-
zent kollabiert oder die Atmung stärker eingeschränkt sei,
müsse eine Drainage angelegt werden. Zu beanstanden sei
daher, dass der beschuldigte Arzt nach dem Hustenanfall
die Lunge nicht gezielt radiologisch hat untersuchen und
kontrollieren lassen. Diese vorwerfbare Unterlassung habe
dazu geführt, dass der Pneumothorax nicht schon Stunden
früher festgestellt wurde, sondern erst in der Klinik nach
Auftreten stärkerer Schmerzen und Atemnot.
Fehlerhaft sei es weiter, die Patientin vor der Entlassung aus
der Praxis nicht über die Symptome eines Pneumothorax
(zum Beispiel Atemnot, Brustschmerz, Husten) aufgeklärt
zu haben mit dem Hinweis, sich beim Auftreten solcher An-
zeichen sogleich in ärztliche Behandlung zu begeben. Zu
einer solchen so genannten Sicherungsaufklärung bestand
zwingender Anlass, da schon in der Praxis der Hustenreiz in
Erscheinung getreten war.
Die festgestellten Behandlungsfehler haben, abgesehen von
den nicht unerheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigun-
gen (Atemnot, Schmerzen), glücklicherweise zu keinen wei-
tergehenden gesundheitlichen Schäden geführt.
Behandlungsfehler eines Allgemeinmediziners
Der zweite Fall betrifft eine 37-jährige Patientin. Sie suchte
den beschuldigten Arzt am 10. August wegen Rücken- und
Nackenschmerzen auf. Der ärztliche Untersuchungsbefund
lautete: „Schmerzhafte Muskelverspannungen des Nacken
und der Trapezmuskulatur.“ Eine spätere, am 18. Septem-
ber durchgeführte Magnet-Resonanz-Tomographie zeigte
eine diskrete Bandscheibenvorwölbung zwischen dem drit-
ten und vierten sowie zwischen dem fünften und sechsten
Halswirbel und stützte damit den ärztlichen Befund.
Der Arzt verordnete zunächst ein Muskelrelaxanz und phy-
sikalische Therapie. Bereits am 14. August erschien die Pa-
tientin wieder in der Praxis und klagte über dieselben Be-
schwerden. Der Arzt schlug nach erneuter Untersuchung,
die dasselbe Ergebnis erbrachte wie am 10. August, der Pa-
tientin Infiltrationen der Nackenmuskulatur mit einem Lo-
kalanästhetikum (Carbostesin
®
0,5%) vor. Der Arzt räumte
im Kommissionsverfahren ein, die Patientin zwar über die
Art der Therapie und das Medikament unterrichtet, nicht je-
doch über mögliche Nebenwirkungen und die Risiken auf-
geklärt zu haben. Die Patientin habe gleichwohl eingewil-
ligt.
Die Infiltration wurde mit einer 40 mm langen Nadel der
Größe I Sterican durchgeführt. Der Arzt behauptet, die Na-
del nur bis zur Hälfte der Länge vorgeschoben zu haben. Zu-
erst habe er links paravertebral der Halswirbelsäule injiziert
und anschließend rechts. Bei einer erneuten Punktion auf
der linken Seite, bei der er „etwas tiefer paravertebral“ ver-
sucht habe zu injizieren, habe er Blut aspiriert und danach
die Behandlung abgebrochen. Zu diesem Zeitpunkt – so die
Darstellung des Arztes – habe die Patientin über eine
Schwäche des linken Armes und Schwindel geklagt, sie ha-
be ihren Kopf nicht mehr so gut halten können. Anschlie-
ßend sei die Patientin bewusstlos geworden, so dass er Maß-
nahmen der Herz-Kreislauf-Wiederbelebung eingeleitet
habe. Gleichzeitig sei ein Notarzt alarmiert worden. Schon
vor dessen Eintreffen habe die Patientin das Bewusstsein
wiedererlangt. In Anwesenheit des Notarztes sei es kurzfris-
tig erneut zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand gekommen.
Nach der notärztlichen Versorgung im Rettungswagen wur-
de die Patientin in einer Abteilung für Anästhesie und Inten-
sivmedizin stationär aufgenommen.ImErstbefund des Anäs-
thesisten wird eine schlaffe Lähmung aller Extremitäten so-
wie einAusfall der Sensibilität ab dem dritten Halswirbel ab-
wärts beschrieben. Wegen des aufgetretenen Herz-, Kreis-
lauf- und Atemstillstandes vermutet er eine zeitgleiche In-
jektion in das Gefäßsystem. Bei den Untersuchungen durch
einen Neurologen etwa eineinhalb Stunden später waren
die Lähmungen wieder geschwunden, so dass die Patientin
bereits am 18. August „in gebessertem Zustand“ entlassen
werden konnte.
Nach Feststellungen des nachbehandelnden niedergelasse-
nen Neurologen bestanden noch Folgeerscheinungen – ve-
getative Labilität, Angstzustände, eine allgemeine Unruhe
mit depressiven Verstimmungen –, die behandelt werden
mussten.
Gutachtliche Beurteilung
Die Gutachterkommission konnte auch in diesem Fall die
Frage der Indikation der Infiltrationsanästhesie nicht ab-
schließend klären, da Feststellungen zur Art und Weise der
nur vier Tage währenden konservativen Therapie nicht
mehr sicher zu treffen waren. Jedenfalls war die Pflicht zur
Aufklärung über die Risiken der vorgeschlagenen ärztlichen
Maßnahme verletzt, so dass die Einwilligung der Patientin