

76
Gutachtliche Entscheidungen
Die Gutachterkommission hat sich in zahlreichen Fällen mit
Diagnose- und Therapieversäumnissen bei einem Herzin-
farkt beschäftigen müssen
(vgl. hierzu auch den behandelten
Myokardinfarktfall, Rheinisches Ärzteblatt, Mai 2001, Seite 27
bzw. in dieser Broschüre Seite 26)
.
Beim Auftreten thorakaler Schmerzen, die – für sich genom-
men – zunächst noch wenig aussagekräftig sind, ist es Auf-
gabe einer genauen Anamneseerhebung mit anschließender
klinischer Untersuchung, das betroffene Organ näher ein-
zugrenzen. Besteht danach der Verdacht auf eine Herzer-
krankung, ist eine vorrangige weiterführende Diagnostik
angezeigt.Hierzu zählt die sofortige, im Zweifelsfall wieder-
holte Ableitung eines Elektrokardiogramms (EKG),von dem
zuerst infarkttypische Veränderungen zu erwarten sind.
Angezeigt ist ferner die Bestimmung so genannter herzspe-
zifischer Enzyme. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen
bestimmen dann die weitere Diagnostik und Therapie bis
hin zu interventionellen Maßnahmen.
Bei der Beurteilung des nachfolgend geschilderten Sachver-
halts bestand kein Anlass, die Anfangsdiagnose (akuter
Herzvorderwandinfarkt) zu beanstanden. Fehlerhaft waren
dagegen die weitere Behandlung des Patienten, insbeson-
dere Versäumnisse des verantwortlichen Facharztes.
Der Sachverhalt
Am 18. Februar mittags traten bei dem 64-jährigen Patien-
ten erstmalig thorakal-epigastrische Schmerzen verbunden
mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfall auf, die vom Patien-
ten zunächst als eine Magen-Darm-Erkrankung gedeutet
wurden. Die anhaltenden Beschwerden mit zunehmenden
Oberbauchschmerzen veranlassten ihn am Abend, sich in
der internistischen Ambulanz des beschuldigten Kranken-
hauses vorzustellen.
Die Dienst habende Ärztin, die sich noch in der Weiterbil-
dung zur Fachärztin befand, untersuchte den Patienten ge-
gen 20 Uhr. Die Kreislaufparameter waren stabil mit Blut-
druckwerten von 120/80mmHg bei einer Herzfrequenz von
80 pro Minute und regelmäßigem Sinusrhythmus.
Aus der Vorgeschichte war keine Herzerkrankung bekannt.
Als kardiovaskuläre Risikofaktoren bestanden ein medika-
mentös eingestellter Diabetes mellitus und eine arterielle
Hypertonie.
Das um 20:19 Uhr registrierte EKG zeigte eindeutige Verän-
derungen im Sinne eines akuten Herzvorderwandinfarktes
mit R-Verlust und ausgeprägten ST-Streckenhebungen in
den Brustwandableitungen V1 bis V5 sowie terminale T-Ne-
gativierung in den AbleitungenV1 undV2, ebenso in den Ex-
tremitätenableitungen nach Goldberger aVR und aVL. Die
Kreatininkinase war mit 277 U/l erhöht; der CK-MB-Anteil
betrug 25 U/l. Die LDH-Aktivität war mit 237 U/l noch
grenzwertig normal, die GOT-Aktivität mit 24 U/l bereits
leicht erhöht. Die Blutzuckerkonzentration betrug zu die-
sem Zeitpunkt 213 mg/dl. Der Untersuchungsbefund inVer-
bindung mit den subjektiven Beschwerden in der Mittags-
zeit bestätigte die Annahme, dass der Eintritt des Herzin-
farktes etwa sieben bis acht Stunden zurücklag.
DieÄrztin unterrichtete den Dienst habenden Facharzt (Ober-
arzt), der die weiteren Therapiemaßnahmen fernmündlich
mit ihr abstimmte. Eine persönliche Inaugenscheinnahme
und Untersuchung hielt der Oberarzt nicht für notwendig.
Intensivbehandlung
Der Patient wurde auf die von der Ärztin in der Nacht eben-
falls betreute Intensivstation verlegt. Durchgeführt wurde
eine rtPa-Lyse-Therapie mit Actilyse und zusätzlicher Medi-
kation von Acetylsalicylsäure (1 Ampulle Aspisol
®
), Heparin
(5.000 Einheiten im Bolus intravenös), einem Betablocker
(1 Ampulle Beloc
®
intravenös) sowie 20 mg Morphium und
5 mg Diazepam zur Schmerzstillung und Beruhigung. Au-
ßerdem erfolgte eine orale Medikation von 100 mg Acetylsa-
licylsäure, Iscover
®
75, Beloc Zok
®
und Lipobay
®
0,3.
Im Anschluss an die Reperfusionstherapie waren die pekt-
angiösen Beschwerden rückläufig; kurze Zeit späterwar der
Patient beschwerdefrei. Die Blutdruckwerte lagen bei
120/80mmHg zwischen 21:30Uhr und 23 Uhr,110/90mmHg
um 23:30 Uhr, 135/85 mmHg um 0:30 und um 2:30 Uhr.
Die erste EKG-Verlaufskontrolle erfolgte um 23:30 Uhr, die
in den Brustwandableitungen V4 und V5 gegenüber dem
Vor-EKG von 20:19 Uhr eine Rückbildung der ST-Strecken-
hebung bei weiterhin ausgeprägter ST-Streckenhebung in
den Ableitungen V2 und V3 mit komplettem R-Verlust zeig-
te. Die herzinfarkttypischen Enzymaktivitäten im Blut wa-
ren nach den Laborbefunden um 01:52 Uhr auf 2.375 U/l CK
und 466 U/l CK-MB angestiegen bei einer LDH-Aktivität
von 974 U/l.
Der weitere Krankheitsverlauf
Gegen 4 Uhr klagte der Patient über Schmerzen in der
Herzgegend bei gleichzeitigem Blutdruckanstieg auf
160/100 mmHg. Das EKG zeigte jetzt deutliche Verände-
rungen gegenüber dem Vorbefund bei persistierendem
R-Verlust in den Ableitungen V2 bis V4. Zugleich sind die
ST-Streckenveränderungen in den Extremitätenableitungen
deutlich ausgeprägter als im EKG von 23:30 Uhr. Es zeigten
sich stärkere ST-Hebungen in den Ableitungen aVL und
aVR,V2 bis V4 sowie eine entsprechende Zunahme der spie-
gelbildlichen Senkungen in den Ableitungen II, III und aVF.
Eine Kontaktaufnahme zwischen der Ärztin und dem Ober-
arzt fand auch zu diesem Zeitpunkt nicht statt. Zur Schmerz-
stillung wurde der Patient analgetisch mit Morphin 10 mg
intravenös versorgt. Im Pflegebericht heißt es: „Patient sehr
schläfrig nach Morphin und Valium, erweckbar. Pat. sagt,
ihm gehe es besser, thorakale Schmerzen nur noch leicht
vorhanden. Pat. hat sich einmal übergeben.“
Therapieversäumnisse bei einem Herzinfarkt
Verspätete interventionelle Maßnahmen