

Behandlungsfehler bei Hautkrebs
hätte nach Auffassung der Kommission die Chance einer
längeren Überlebenszeit – in Einzelfällen möglicherweise
sogar einer Heilung – gewahrt.
Zur Behandlung in der Fachklinik stellte die Gutachterkom-
mission ausdrücklich fest, dass sie in vollem Umfang den
medizinischen Regeln und Leitlinien gerecht geworden sei.
Dass der Tod des Patienten nicht mehr verhindert werden
konnte, liege am aggressiven Grundcharakter des malignen
Melanoms.
Die Kommission konnte nicht die Feststellung treffen, dass
bei rechtzeitiger Diagnose der Tod des Patienten abwendbar
gewesen wäre. Da nach ihrer Ansicht ein schwerwiegender
(= grober) Behandlungsfehler vorliegt, kann hier nach der
Rechtsprechung die Umkehr der Beweislast in Betracht
kommen. Es ist dann Sache des beschuldigten Arztes, den
Nachweis zu führen, dass die Schadensfolge nicht auf ärzt-
lichen Versäumnissen beruht, was in solchen Fällen kaum
gelingen dürfte.
Der zweite Fall betrifft differenzial-
diagnostische Versäumnisse
Die 77 Jahre alte Patientin suchte am 14. Mai wegen einer
Wundstelle an der rechten dritten Zehe den beschuldigten
niedergelassenen Chirurgen auf. Der Arzt nahm eine Röntgen-
untersuchung vor und beschrieb in seinen Krankenunter-
lagen eine dunkle Verfärbung und Ulzeration an der dritten
Zehe rechts seitlich. Die Verfärbung führte er auf eine
Minderdurchblutung zurück (primäre arterielle Verschluss-
krankheit). An ein Melanom dachte er nicht.
Die Behandlung erfolgte mit Fibrolan-Salbe und Varihesive-
Verbänden und ab dem 9. Juni mit Mercurochrom. Lokal
nahm er zwischenzeitlich Nekroseabtragungen vor, die histo-
logisch nicht untersucht wurden. Verbandwechsel erfolgten
regelmäßig. Die Wunde wurde als reizlos, später als etwas
feucht und ohne wesentlichen Druckschmerz beschrieben.
Eine Besserung zeichnete sich auch nach zwei Monaten
nicht ab. Die Behandlung durch den beschuldigten Arzt
wurde vorerst am 15. Juli, zunächst wegen des Urlaubs des
Arztes, danach aus in der Person der Patientin liegenden
Gründen, unterbrochen. Sie suchte den Chirurgen erst am
11. November wieder auf. Der Arzt stellte eine zunehmende
Nekrose fest und wies sie wegen der von ihm für notwendig
gehaltenen Amputation in eine Chirurgische Klinik ein.
Stationäre Behandlung
Am 20. November erfolgte die Amputation der dritten Zehe
rechts in Höhe des Grundgliedköpfchens. Gleichzeitig wur-
de die rechte Großzehe wegen eines Panaritium mit Keil-
exzision des lateralen Anteils des Nagels operiert.
Die histologische Untersuchung ergab an der dritten Zehe ein
oberflächlich ulzeriertes, streckenweise pigmentiertes mali-
gnes Melanom,welches das Subkutan-Fettgewebe circa 7 mm
infiltriert hatte (Clark Level V, Invasionstiefe nach Breslow
ca. 7 mm). Ferner sah man Geschwulstverbände in erweiter-
ten Gewebs- und Lymphspalten, Perineuralscheiden und
Venenlichtungen (Angiosis und Lymphangiosis blastomatosa).
Im Resektionsrand war Krebsgewebe nicht enthalten.
Die Wunde heilte sekundär. Am 3. Dezember erfolgte die
Verlegung in eine Hautklinik, in der die Weiterbehandlung
erfolgte. Im April des folgenden Jahres wurde eine weitere
Geschwulst am rechten Fuß entfernt. Im Mai wurden Meta-
stasen in der Lunge festgestellt. Auch nach fachgerechter
Behandlung und Betreuung konnte der Anfang August des
nächsten Jahres eingetretene Tod der Patientin nicht abge-
wendet werden.
Gutachtliche Beurteilung
Bei der am 14.Mai vom beschuldigten Arzt festgestellten Ge-
webeveränderung handelte es sich nicht, wie der Arzt mein-
te, um eine Durchblutungsstörung, sondern um das später
diagnostizierte akrale maligne Melanom an der dritten Zehe
rechts, das bereits zum Gewebezerfall geführt hatte. Die
Gutachterkommission vermisste,abgesehen von der Röntgen-
untersuchung am 14. Mai, in der Folgezeit weitere abklä-
rende differenzialdiagnostische Maßnahmen wie z.B. zum
Ausschluss eines Diabetes mellitus, einer arteriellen Durch-
blutungsstörung, Fußpulskontrollen bzw. eine Angio-
graphie.
Diese Diagnostik wurde umso dringlicher, weil auch nach
wochenlanger Behandlung keine Heilungstendenz er-
kennbar war.Versäumt wurde insbesondere die notwendige
feingewebliche Untersuchung des abgetragenen Gewebes.
Während der zweimonatigen ergebnislosen Behandlung mit
Salbenverbänden hätte differenzialdiagnostisch schon früh-
zeitig auch an das Vorliegen eines bösartigen Tumors ge-
dacht werden müssen. Dass insbesondere die histologische
Untersuchung in der Zeit bis zum 15. Juli unterlassen wur-
de, ist nach der ständigen Praxis der Gutachterkommission
als schwerwiegend fehlerhaft zu beurteilen. Die Folgezeit
geht allerdings nicht zu Lasten des Arztes, weil er insoweit
keine Behandlungsmöglichkeit hatte.
Die Gutachterkommission hat auch zu der Frage Stellung
genommen, ob bei rechtzeitiger zutreffender Diagnose der
Tod der Patientin abwendbar gewesen wäre. Sie hat eine
solche Feststellung nicht treffen können. Nach den wissen-
schaftlichen Erkenntnissen über das maligne Melanom, ei-
ner besonders bösartigen Geschwulst, kann der Primärtumor,
trotz reichlicher Metastasenbildung, klein und unscheinbar
bleiben, aber auch schon früh Metastasen bilden. Aus der
Tiefe der Geschwulst von 7 mm könnte geschlossen wer-
den, dass auch bei früherer Diagnose der Tod der Patientin
nicht mehr abwendbar gewesen wäre. Die Gutachterkom-
mission vertrat aber die Auffassung, dass die über viermona-
tige Therapieverzögerung zu gewissen gesundheitlichen
Nachteilen geführt habe. Die Chance, dies zu vermeiden, sei
der Patientin durch die Versäumnisse des Arztes genommen
worden.
Ergänzend zum Thema
Die Gutachterkommission musste bislang in mindestens 24
(abgeschlossenen) Begutachtungsverfahren vorwerfbare
Behandlungsfehler feststellen, die maligne Melanome be-
trafen. Beteiligt waren Dermatologen (12-mal), Chirurgen
(6-mal), Pathologen (2-mal) sowie ein Orthopäde, Gynäko-
loge, Urologe und Allgemeinarzt. In 13 Fällen wurde die
gebotene histologische Untersuchung entnommener Ge-
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Gutachtliche Entscheidungen