

Gutachtliche Entscheidungen
121
Behandlungsfehlervorwürfe wegen vermuteter Fehldia-
gnostik und -behandlung bei Erkrankungen, die unter der
Oberdiagnose eines Wirbelsäulensyndroms einzuordnen
sind, werden häufig erhoben. Während es meist weniger
Probleme bereitet, radikuläre Wirbelsäulensyndrome auf-
grund ihrer neurologischen Symptome einzuordnen, kann
dies bei den lokalenWirbelsäulensyndromen und den pseu-
doradikulären Beschwerdebildern sehr viel schwieriger
sein.
Es ist bekannt, dass bei einem hohen Prozentsatz chronisch
gewordener „Rückenleiden“ die Beschwerden keinem be-
stimmten anatomischen Substrat zugeordnet werden kön-
nen, sie also „unspezifisch“ sind. Diagnostische Sorgfalt ist
dann geboten. Sowohl unter dem Erscheinungsbild radiku-
lärer wie lokaler, akuter wie chronischer Wirbelsäulensyn-
drome verbergen sich nämlich mitunter andere Ursachen als
die vermuteten (und dem Behandlungsregime zugrunde ge-
legten) Bandscheibenschäden, Spondylarthrosen (Facetten-
Syndrom), Wirbel- und Rippengelenkblockierungen und
weichteilbedingte (Muskulatur, Bänder etc.) Affektionen.
Wirbelsäulenferne Erkrankungen können eine Ischialgie
vortäuschen.
Die Fachgesellschaften weisen in ihren Leitlinien auf zahl-
reiche differenzialdiagnostische Überlegungen und Unter-
suchungen hin.
Zu den wirbelsäulenfernen Ursachen zählen Erkrankungen
des Hüftgelenkes. Sie werden mitunter nicht nur primär
übersehen und unter der Fehldiagnose eines Wirbelsäulen-
syndroms behandelt, sondern häufiger noch in Fällen, in
denen tatsächlich auch ein Lendenwirbelsäulensyndrom
vorliegt oder bei dem betreffenden Patienten schon früher
behandelt worden ist. Mit einem solchen Fall hatte sich die
Gutachterkommission zu befassen.
Der Sachverhalt
Eine 48-jährige Frau gibt in ihrem Antrag an, sie sei am
28. Mai mit einer Leiter gegen eine Wand gekippt und habe
sich Prellungen an der linken Seite des Rumpfes und des
Oberschenkels zugezogen. Wegen zunehmender Schmer-
zen im Oberschenkel habe sie 6 Tage danach, am 3. Juni,
ihren Hausarzt aufgesucht. Dieser hatte sie zusammen mit
dem Hausorthopäden 6 Wochen zuvor wegen eines Len-
denwirbelsäulen-Syndroms behandelt mit Krankschrei-
bung. Er überweist sie wegen der Beschwerden und der
nun vorhandenen Gehbehinderung unter der Diagnose
Ischialgie wieder zum Orthopäden.
Ambulante Behandlung
Die Patientin sucht am 5. Juni dessen Urlaubsvertreter auf,
der Folgendes dokumentiert: „Seit einigen Tagen Lumbo-
ischialgie links, Zustand nach NpP 1988, nimmt bereits
Gabrilen. Befund: Druckschmerz Kreuzdarmgelenk links
und Foramen ischiadicum links. Spine-Test nicht prüfbar.
Neurologie: Reflexstatus obere und untere Extremität
normgerecht, keine dermatombezogenen Sensibilitätsstö-
rungen, keine Fußheber- und Fußsenkerschwäche, Zehen-
und Fersengang durchführbar, Psoas und Quadriceps o.B.,
keine Glutaealschwäche, Lasegue negativ, keine Blasen- und
Mastdarmstörungen, Funktion beider Hüften symmetrisch
und frei“.
Unter der Diagnose einer „Akuten Lumboischialgie“ erfolg-
te eine Infiltration im Bereich des linken Kreuzdarmbein-
gelenkes und eine Piroxicam-Injektion i. m., ferner wurde
Tetrazepam verordnet. Diese Behandlung wird am 7. Juni
wiederholt, eine leichte Besserung dokumentiert und eine
Überweisung zum Radiologen ausgestellt für ein MRT der
Lendenwirbelsäule.
Am 18. Juni wird der aus dem Urlaub zurückgekehrte Haus-
orthopäde aufgesucht, der von seiner Vertretung unterrich-
tet worden war und unter dem 19. Juni dokumentiert:
„Klagt seit Jahren über rezidivierende Rückenschmerzen.
Im Stehen geringer Beckentiefstand rechts.Weitgehend ge-
raderWirbelsäulenaufbau. Normale Brustkyphose und Len-
denlordose. Beweglichkeit der HWS und LWS endgradig
eingeschränkt. Druckschmerz C4/D1 links und L4/S1 bei-
derseits. Keine neurologischen Ausfälle an den Extremitä-
ten. Lasegue beiderseits negativ. Reflexe seitengleich o. B.“.
Es wurde eine Injektion i. m. gegeben, am 20. Juni ein
Schmerzmittel verordnet und am 21. Juni ein Rollstuhl. Am
25. Juni lag die Befundung des MRT vor mit dem Ergebnis
„Prolaps L4/L5 links“. Es erfolgte die Einweisung in ein
Krankenhaus.
Stationäre Behandlung
Bei der Aufnahme am Folgetag wurde im Krankenhaus no-
tiert: „Seit ca. 5 Wochen Schmerzen tief lumbal mit Aus-
strahlung in das linke Bein, Liegen und Sitzen gut möglich,
Stehen möglich, Laufen nicht möglich. Befund: PSR und
ASR seitengleich lebhaft auslösbar, Lasegue beiderseits ne-
gativ, Fußsenker links in der Kraft gemindert 4/5, Fußheber
links gering gemindert, keine Hypästhesien, keine Paresen,
beide Hüften frei beweglich, Durchblutung peripher o. B.“.
Unter der Diagnose einer Ischialgie bei Bandscheibenvorfall
wurde die Patientin mit bildwandlergesteuerten Infiltratio-
nen, Krankengymnastik und Stangerbädern, Fango und
Massagen vom 26. Juni bis 4. Juli behandelt. Den Pflegepro-
tokollen ist zu entnehmen, dass sie ausschließlich mit dem
Rollstuhl unterwegs war.Die Patientin verließ das Kranken-
haus gegen ärztlichen Rat.
Erneute ambulante Behandlung
Am Folgetag suchte sie eine chirurgisch-orthopädische Pra-
xis auf, wo am 5. Juli dokumentiert wird: „Seit 5 Wochen
Schmerzen linker Oberschenkel. Befund: Bewegungs-
Diagnoseirrtum: Ischialgie
oder: Der lange Weg zur richtigen Diagnose