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Gutachtliche Entscheidungen
Wird ein Kind mit einer schweren Behinderung geboren,
hinterfragen die Eltern verständlicherweise die gynäkolo-
gische Behandlung der Mutter vor und während der Schwan-
gerschaft. Wiederholt wurde die Gutachterkommission ge-
beten, solche Behandlungen auf schadensursächliche Fehler
zu überprüfen.
Im folgenden Fall erschien die Behandlung suboptimal, aber
noch nicht fehlerhaft. Auch ließ sich der Ursachenzusam-
menhang mit dem Gesundheitsschaden nicht nachweisen.
Gewissenhafte Ärztinnen und Ärzte werden aber die Unzu-
länglichkeiten der zu erörternden Behandlung vermeiden,
schon weil sie dadurch möglicherweise dem Neuralrohrde-
fekt eines Kindes und damit dem Leid seiner Familie vor-
beugen können.
Der Fall
Keine Empfehlung der Folsäureeinnahme bei
Kinderwunsch – Kind mit Neuralrohrdefekt geboren
Folsäuremangel ist ein häufiger Vitaminmangel. 1991 wies
eine Multicenterstudie nach, dass die Folataufnahme in fast
allen Bevölkerungsschichten zu gering ist, und eine peri-
konzeptionelle Folsäuresubstitution das Risiko eines fetalen
Neuralrohrdefektes deutlich reduziert [1]. Eine solche Sub-
stitution der Mutter des Kindes nicht empfohlen und den
Neuralrohrdefekt während der Schwangerschaft nicht er-
kannt zu haben, werfen die Eltern dem Arzt vor.
Der Sachverhalt
Die Mutter des Kindes war seit 1992 bei dem niedergelasse-
nen Frauenarzt in Behandlung. Im Oktober des Behand-
lungsjahres teilte sie ihm ihren Kinderwunsch mit,worauf er
Blut zur Bestimmung des Rötelntiters entnahm. Zwischen
dem 3. und dem 14. Mai des Folgejahres stellte sich die Pa-
tientin nach letzter Periode am 15. April zur Krebsvorsorge
und wegen verschiedener Infektionen vor, die behandelt
wurden. Am 28. Mai erschien sie erneut in der Praxis und
berichtete von einem Schwangerschaftstest mit positivem
Ergebnis. Der Arzt entnahm Blut für eine Untersuchung zur
Mutterschaftsvorsorge; der Antikörpersuchtest wurde als
negativ vermerkt. Die Patientin befand sich in der rechne-
risch 5. oder 6. Schwangerschaftswoche.
Am 11. Juni 2001 (8.+1 SSW) wurde die erste Schwangeren-
vorsorgeuntersuchung in den Mutterpass eingetragen, wo-
bei das Gewicht mit 76,8 kg vermerkt wurde. Weiter heißt
es:„Jodid mitgegeben, Patientin nimmt Folsäure ein“. Ultra-
schalluntersuchungen fanden am 25. Juni (10. SSW), 23. Juli
(14. SSW), 3. September (20.+1 SSW) und 29. Oktober
(28. SSW) statt. Sie wurden mit einem noch zugelassenen Ul-
traschallkopf in unzulänglicher Qualität vorgenommen und
als nicht kontrollbedürftig befundet.
Bei der letzten Untersuchung in der 39.+2 SSW (Blutdruck
mit 160/80 mmHg/Gewicht 104,8 kg) wurde die Antrag-
stellerin in ein Perinatalzentrum mit dem Vermerk „EPH-
Gestose“ eingewiesen. Die Schnittentbindung führte zur
Entwicklung eines reifen lebensfrischen Kindes, Apgar
9/10/10, Nabelarterien-pH 7,23. Bei dem Kind wurde eine
lumbosakrale Myelomeningozele festgestellt. Die Beine be-
wegten sich nicht.Das Neugeborene wurde in die Kinderkli-
nik verlegt und dort unverzüglich operiert. Nach dem Arzt-
bericht wies es eine hochgradige Paraparese beider Beine
mit Myelomeningozele, Arnold-Chiari-Malformation Typ II
mit Hydrocephalus und einer Ventrikulomegalie aus.
Gutachtliche Beurteilung
Die Gutachterkommission, sachverständig beraten, hat zu
der Frage Stellung genommen, ob eine entsprechende Fol-
säuremedikation das Auftreten der Spina bifida hätte ver-
hindern können und die Fehlbildung während der Schwan-
gerschaft sonographisch hätte erkannt werden müssen.
Nach dem Gutachten ist eine Myelomeningozele (Spina bi-
fida) durch prophylaktische Gabe von Folsäure in ihrer
Häufigkeit um 70 Prozent zu reduzieren; 0,4 mg Folsäure
täglich bei unbelasteter Anamnese, bzw. 0,8 mg täglich bei
belasteter Anamnese, bereits vor der Konzeption und wäh-
rend des ersten Trimenon wird empfohlen [1].
Es kommt auf die Zeit peri- bis drei Wochen postkonzeptio-
nell an, weil in dieser Zeit die Ausbildung des Neuralrohrs
stattfindet. In Lehrbüchern und der Zeitschrift „Der Gynä-
kologe“ (2005) [2] wird auf die Versorgung mit Vitaminen,
Mineralstoffen und die Verabreichung von Folsäure hinge-
wiesen, weil die präkonzeptionelle Unterversorgung das
Risiko einer Verschlussstörung begünstigen kann.
Die von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und
Geburtshilfe (DGGG) bei Planung einer Schwangerschaft
empfohlene Einnahme von Folsäure vor und in den ersten
Wochen nach Schwangerschaftsbeginn, die erstmalig im
Jahre 1994 ausgesprochen wurde, hätte möglicherweise die
Spina bifida des Kindes verhindern können.
Allerdings ist die Akzeptanz der präkonzeptionellen Folsäu-
reprophylaxe bis heute unzureichend: nur circa 10 bis 40
Prozent der Schwangeren nehmen dem Sachverständigen-
gutachten entsprechend Präparate präkonzeptionell ein.
Etwa 40 bis 75 Prozent der Frauenärzte empfehlen ihren Pa-
tientinnen die Folsäurezufuhr (so der Arbeitskreis Folsäure
2004). Auch ist die Empfehlung bis heute nicht in die Mut-
terschaftsrichtlinien aufgenommen worden, obwohl es sich
beim Neuralrohrdefekt um eine relativ häufige und sehr
schwerwiegende Missbildung von 1 bis 2 auf 1.000 Gebur-
ten handelt. Andererseits kann in etwa 30 Prozent der Fälle
mit Neuralrohrdefekten trotz präventiver Einnahme von
Folsäure aus anderen Ursachen eine solche Fehlbildung ent-
stehen.
Fetale Anomalie – Neuralrohrdefekt
Keine Folsäurebehandlung bei Kinderwunsch – ungenügende Toxoplasmose-Diagnostik
in der Schwangerschaft