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Gutachtliche Entscheidungen

Nach Schätzungen muss man in Deutschland von etwa

10.000 Verletzungen der Wirbelsäule im Jahr ausgehen. In

etwa 75 Prozent der Fälle handelt es sich um ein Monotrau-

ma der Wirbelsäule und in etwa 25 Prozent um eine Verlet-

zung der Wirbelsäule im Rahmen eines Polytrauma

(Maier

2008)

. Neurologische Komplikationen im Sinne einer kom-

pletten oder inkompletten Querschnittslähmung werden im

Rahmen einer Wirbelsäulenverletzung in etwa 20 Prozent

aller Fälle beobachtet. Dies zeigt die Bedeutung einer unver-

züglichen Diagnose eines Wirbelbruches.

Erfahrungen der Gutachterkommission

Im Zeitraum vom 1. Januar 2004 bis zum 31.Dezember 2008

hat die Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfeh-

ler bei derÄrztekammer Nordrhein insgesamt 7.053Vorwür-

fe wegen eines vermeintlichen Behandlungsfehlers begut-

achtet

(siehe Tabelle 1)

. In 704 Fällen, das entspricht rund 10

Prozent, wurde der Vorwurf wegen einer knöchernen Ver-

letzung erhoben, der in 60 Fällen (8,5 Prozent) die Wirbel-

körper betraf. Die Brüche waren 15-mal in der HWS,

22-mal in der BWS und 23-mal in der LWS lokalisiert, wo-

bei im Brust- und Lendenwirbelbereich gleichzeitig mehre-

re Wirbelkörper befallen waren.

Die Wirbelkörperfraktur wurde in 39 Fällen (65 Prozent)

primär nicht erkannt. Davon war in 23 Fällen (59 Prozent)

der Vorwurf eines Diagnosefehlers berechtigt, in 16 Fällen

(41 Prozent) konnte er verneint werden.

Die Problematik einer nicht erkannten Wirbelfraktur soll

durch zwei Beispiele verdeutlicht werden:

1. Nach Raubüberfall Einlieferung des Verletzten in eine un-

fallchirurgische Abteilung. Bei der klinischen Untersu-

chung wurden neben Prellungen im Schädelbereich star-

ke Druck- und Bewegungsschmerzen im Brustkorb und

rechten Handgelenk festgestellt. Es wurden lediglich das

Sternum und rechte Handgelenk geröntgt, die eine Frak-

tur aufwiesen. Das Handgelenk wurde mit einer dorsalen

Unterarmgipsschiene ruhiggestellt und der Verletzte sta-

tionär aufgenommen. Zwei Tage später gab er Schmerzen

in derWirbelsäule an.Die daraufhin veranlasste Röntgen-

untersuchung der Wirbelsäule ergab eine instabile Frak-

tur des 6. und 7. Brustwirbelköpers (AOTyp C), sodass der

Unfallverletzte am folgendenTag in eine Spezialabteilung

verlegt und operiert wurde.

Begründung des Bescheides: Im Rahmen der festgestell-

ten Unfallverletzungen wurde eine Sternumfraktur dia-

gnostiziert. Diese schwere Verletzung hätte nach sorgfäl-

tiger klinischer Untersuchung am Unfalltag eine weiter-

gehende Diagnostik des Thorax und derWirbelsäule mit-

tels CT dringend erfordert. Die Unterlassung stellt einen

groben Behandlungsfehler dar. Sie hatte aber keine Fol-

gen, da der Verletzte 3 Tage später in eine andere Klinik

verlegt und behandelt wurde.

2. Nach Sturz vom Pferd wurde die Verletzte in eine Unfall-

abteilung gebracht. Bei der klinischen Untersuchung

wurde ein Druck-und Bewegungsschmerz im Bereich der

Hals-und dermittleren Brustwirbelsäule festgestellt.Neu-

rologisch ließen sich keine Ausfälle nachweisen. Auf den

Röntgenaufnahmen der Hals- und Brustwirbelsäule in 2

Ebenen, die von der Patientin auf einer Vakuummatratze

liegend angefertigt wurden, sahen die Ärzte keine knö-

chernen Verletzungen. Bei nachträglicher Betrachtung

der Röntgenaufnahmen musste man trotz Überlagerung

durch die Vakuummatratze den hochgradigen Verdacht

auf Deckplatteneinbrüche und Höhenminderung eines

Brustwirbelkörpers äußern. In einer anderen Klinik wur-

den dann 12 Tage später durch CT-Untersuchung stabile

BWK-Frakturen 5-9 festgestellt.

Begründung des Bescheides: Nach Sturz vom Pferd wur-

den die Wirbelfrakturen wegen ungenügender Diagno-

stik (schlechte Bildqualität durch Überlagerung wegen

der Vakuummatratze und Unterlassen einer CT-Untersu-

chung) nicht erkannt, obwohl auf den konventionellen

Röntgenaufnahmen der Frakturverdacht bestand. Die

verzögerte Diagnostik von 12 Tagen und unzureichende

Behandlung wurden als Behandlungsfehler anerkannt.

Besprechung und Diskussion

Die gebotene Diagnostik der Wirbelverletzungen ist unter

anderem in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für

Unfallchirurgie zusammengefasst

(Stürmer, K. M., Leiter der

Arbeitsgruppe, siehe auch Tabelle 2, Seite 147)

. Den wichtigsten

Hinweis auf eine Wirbelkörperverletzung gibt die Anamne-

se. Neben dem Erfragen des Beginns der Beschwerden ist

der möglichst genaue Unfallhergang zu eruieren. Liegt eine

Osteoporose vor, so genügt ein Verhebetrauma oder ein

Fehltritt, um eine Sinterung des Wirbelkörpers zu verursa-

chen. Bei bewusstlosen Patienten oder Patienten mit retro-

grader Amnesie können Angehörige oder Personen, die das

Unfallgeschehen verfolgten, wertvolle Informationen geben.

Das vorherrschende Symptom einer frischen Wirbelfraktur

ist der Rückenschmerz. Die Patienten liegen steif auf dem

Rücken und können sich wegen der heftigen Schmerzen

nicht bewegen. Liegt eine Fraktur der Brustwirbelsäule vor,

dann können die Schmerzen in den Brustkorb, bei Fraktu-

Das diagnostische Dilemma der Wirbelfraktur

Mangelhafte klinische Untersuchung und Fehlinterpretation der konventionellen

Röntgenaufnahmen häufigste Gründe für die Verkennung einer Wirbelkörperfraktur

Tabelle 1: Wirbelfrakturen Zeitraum 1.1.2004 bis 31.12.2008

n

% BF %

Begutachtungen

7.053 100 2.196 31,1

Frakturen

704 10,0 315 44,7

Wirbelfrakturen

60 8,5

(HWS = 15; BWS = 22; LWS = 23)

nicht erkannt

39 65,0 23 59,0