

Das diagnostische Dilemma der Wirbelfraktur
Gutachtliche Entscheidungen
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ren der oberen Lendenwirbelsäule in den Unterbauch oder
das kleine Becken ausstrahlen.
Die exakte klinische Untersuchung ist unabdingbar, um die
Wahrscheinlichkeit eines Wirbelkörperbruches zu erhär-
ten. Der Verletzte muss dazu auf die Seite gelegt und der ge-
samte Wirbelsäulenbereich inspiziert werden. Dabei ist auf
äußere Verletzungszeichen wie Kontusionsmarke, Fehlstel-
lungen oder Stufenbildung zu achten. Beim leichten Beklop-
fen der einzelnen Wirbelkörper mit den Fingern wird ein
deutlicher umschriebener Schmerz angegeben, der auch
durch kurzen Druck auf den Kopf ausgelöst werden kann.
Die Prüfung der Sensibilität und Motorik ist notwendig, um
begleitende Nervenverletzungen frühzeitig zu erkennen.
Der Befund ist zeitnah zu dokumentieren.
Bei den anerkannten vorwerfbaren Fehldiagnosen einer
Wirbelfraktur wurden in einem Drittel die klinischen
Hinweiszeichen missachtet, die seit Jahrzehnten zur allge-
meinen Basisdiagnostik gehören. Selbst in Unfallabteilun-
gen wurde die Wirbelsäule der Verletzten entweder nicht
oder nur oberflächlich klinisch untersucht, vor allem dann,
wenn die Beschwerden durch weitere knöcherne Verletzun-
gen überlagert wurden.
Als Grundpfeiler für die Diagnose einer Fraktur gilt die
Untersuchung mit den bildgebenden Verfahren. Mit den
konventionellen Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule in
Aufsicht und seitlichem Strahlengang sind Frakturen vom
3. Halswirbelkörper bis zum Os sacrum in der Regel zu er-
kennen
(Vogt 2004)
. Bei jeder nachgewiesenenWirbelverlet-
zung sollte aber die gesamte Wirbelsäule geröntgt werden,
da jede 5.Wirbelköperverletzung von einer zweitenWirbel-
verletzung begleitet ist
(Schwarz 2003)
.
Besteht auf der konventionellen Röntgenaufnahme der Ver-
dacht einer Fraktur oder stellt sich eine Fraktur dar, so wird
eine ergänzende computertomographische Untersuchung
gefordert. Dies ist notwendig, da in den letzten Jahren zahl-
reiche operative Möglichkeiten entwickelt wurden, um eine
instabile Fraktur zu fixieren. Zur Einteilung derWirbelbrü-
che in stabile und instabile hat sich die AO-Klassifikation
allgemein bewährt
(Magerl und Mitarbeiter 1994)
.
Danach unterscheidet man 3 Typen:
Typ A = Kompressionsfrakturen (stabil)
Typ B = Flexions- und Distraktionsfrakturen (instabil)
Typ C = Rotationsfrakturen (instabil)
Während die CT-Untersuchung das knöcherne Verletzungs-
muster sehr gut wiedergibt, dient das Kernspin-Tomogramm
dazu, discoligamentäre Verletzungen aufzuzeigen. Es sollte
daher bei instabilen Wirbelfrakturen stets als ergänzende
Untersuchung veranlasst werden. Eine Kernspin-Untersu-
chung sollte auch bei neurologischen Ausfallserscheinun-
gen ohne radiologisches Substrat angefertigt werden. Bei
Frakturen der Brust- und Lendenwirbelkörper ist eine Rönt-
genaufnahme des Brustkorbes und knöchernen Beckens so-
wie eine sonografische Untersuchung des Bauchraumes er-
forderlich, um weitere Verletzungen auszuschließen.
Juristische Aspekte
Rechtlich ist auf Folgendes hinzuweisen: Das Nichterken-
nen einer Fraktur (Fehldiagnose) braucht noch kein Be-
handlungsfehler zu sein,wenn sie entschuldbar ist, zum Bei-
spiel bei nicht ohne weiteres erkennbarer schlechter Auf-
nahmequalität, oder wenn vor allem bei polytraumatisierten
Verletzten
(Fall 1)
die Anamneserhebung schwierig ist und
Rückenschmerzen − das Leitsymptom − nicht beklagt wer-
den. Stets ist aber die Diagnostik zu überprüfen, unter Um-
ständen auch schon dann, wenn der Patient sich noch nicht
äußern kann, aber andere Verletzungen (in Fall 1 die Stern-
umfrakturen) den Verdacht vonWirbelverletzungen nahele-
gen.Wird ungenügend klinisch untersucht oder die gebote-
ne Röntgen-, CT- oder MRT-Aufnahme unterlassen, kann
der Vorwurf begründet sein, dass dringend gebotene Befun-
de nicht erhoben worden sind, was ggf. als Verstoß gegen
elementare ärztliche Behandlungsregeln und damit als
schwerwiegender oder grober Behandlungsfehler gewertet
wird. Bei nur kurzfristiger Beobachtung einer Patientin
(Fall 2)
muss eine eindringliche (und dokumentierte) Siche-
rungsaufklärung erfolgen, dass bei neu auftretenden, anhal-
tenden oder sich verschlimmernden Beschwerden eine wei-
tere Wirbeldiagnostik erforderlich ist.
Die aus Sicht der Gutachterkommission 23 vorwerfbaren
Fehldiagnosen einer nicht erkannten Wirbelfraktur waren
in der Regel auf falsche Interpretationen der konventionel-
len Röntgenaufnahmen zurückzuführen. Die falsche Beur-
teilung wurde entweder durch die erkennbar schlechte Bild-
qualität oder durch die Annahme einer älteren Wirbelkör-
perverletzung verursacht.DurchWiederholung der konven-
tionellen Röntgenaufnahme oder Ergänzung durch eine CT-
Untersuchung wären die Frakturen leicht zu erkennen ge-
wesen. Auch war die Unzulänglichkeit der Diagnostik bei
sorgfältiger Prüfung ersichtlich.
In 16 Fällen wurde ein vorgeworfener Diagnosefehler ver-
neint. 6-mal war eine knöcherne Verletzung auf den Rönt-
genaufnahmen des Unfalltages auch im Nachhinein nicht
zu sehen. 5-mal wurden bei der Erstuntersuchung keine
Schmerzen in der Wirbelsäule angegeben, sodass der Ver-
zicht auf eine Röntgenuntersuchung zu vertreten war. In
5 Fällen war der Vorwurf unbegründet.
Tabelle 2: Diagnostik der Wirbelfrakturen
Anamnese
Klinische und neurologische
Untersuchung
Bildgebende Untersuchung Konventionelle Röntgenaufnahmen
(anterior-posterior + seitlich)
Computertomogramm (Ergänzung
bei Frakturnachweis oder
Frakturverdacht)
Kernspintomografie bei Verdacht
auf discoligamentäre Läsion
Ergänzend Sonographie des
Abdomens, Röntgen Thorax
und knöchernes Becken