

Verzögerte Diagnose eines malignen Nierentumors
Sorgfaltspflicht verletzt
Der behandelnde Arzt Dr. A. meint hierzu, die Mängel der
Röntgenuntersuchung könnten ihm nicht angelastet wer-
den. Er habe sich auf den Befund von Dr. B., der in der Ge-
meinschaftspraxis die Qualifikation zur Durchführung in-
travenöser Pyelogramme gehabt habe, im Sinne einer hori-
zontalenArbeitsteilung verlassen können.Für ihn habe somit
kein Anlass zu weiterführenden Untersuchungen bestanden.
Nach der Auffassung der Kommission übersieht Dr. A. hier
einmal, dass in einer Gemeinschaftspraxis eine gemeinsame
Haftung eingreift. Unabhängig davon habe Dr. A. auch per-
sönlich fehlerhaft gehandelt. Mikrohämaturie, Ultraschall-
befund und die zu einem Tumorausschluss unzureichende
Röntgenuntersuchung, was bei der erforderlichen Sorgfalt
auch für ihn erkennbar gewesen sei, hätten den behandeln-
den Arzt zu einer weiterführenden Diagnostik veranlassen
müssen. Er hätte entweder ein Computertomogramm veran-
lassen oder aber – vielleicht noch besser – an einen Urologen
überweisen müssen.
Fehlerhaft war es weiter, auf engmaschige Kontrollunter-
suchungen des Harns zu verzichten, dies sogar bei der nächs-
ten Vorstellung im Februar 1999. Der Patient hätte zudem
auf die Notwendigkeit mehrfacher zeitnaher Kontrollen
hingewiesen werden müssen.
Erst nachdem sich bei der sozialmedizinischen Untersu-
chung Ende August 1999 der Verdacht auf einen Nierentu-
mor ergab,wurde von den beschuldigten Ärzten das Erforder-
liche veranlasst, wobei die Röntgenaufnahmen vom 2. Sep-
tember 1999 ebenfalls unzureichend und deshalb schwer zu
beurteilen waren. Erst durch die Computertomographie ge-
lang der Nachweis eines großen Tumors am oberen Pol der
rechten Niere.
Fazit
Die Gutachterkommission stellte zusammenfassend als Be-
handlungsfehler fest:
Fehlerhaft war bereits der Verzicht auf Kontrolluntersu-
chungen des Harns nach 1995.Der nächste und zumGesund-
heitsschaden führende Behandlungsfehler lag dann in der
Beurteilung der Röntgenaufnahmen vom 18. Mai 1998, die
qualitativ so unzureichend waren, dass sie weder einen Nie-
rentumor ausschlossen noch bestätigen konnten und deshalb
nicht als „ohne pathologischen Befund“ hätten bezeichnet
werden dürfen. Der weitere entscheidende Fehler war die
Unterlassung der weiterführenden Diagnostik, obwohl sie
nach dem geschilderten Untersuchungsbefund und auch bei
einemVerdacht auf eine einseitige Schrumpfniere zwingend
geboten war. Zu beanstanden war schließlich der mangelnde
Hinweis an den Patienten auf die Notwendigkeit zeitnaherKon-
trolluntersuchungen (unterlassene Sicherungsaufklärung).
Die intraoperativ festgestellte und durch pathologisch-ana-
tomische Untersuchungen bestätigte Ausdehnung des Tu-
mors lässt nach Auffassung der Gutachterkommission den
Schluss zu, dass zumindest die im Mai 1998 aufgetretenen
Krankheitszeichen das Frühsymptom des im September
1999 operierten Nierenkarzinoms darstellten.
Die Kommission konnte zwar nicht die vom Patienten be-
gehrte Feststellung treffen, dass es bei rechtzeitiger Diagnose
im Mai 1998 nicht zur Entfernung der Niere gekommen wä-
re. Die topographische Lage des Tumors hätte auch zu die-
sem Zeitpunkt eine Nephrektomie erforderlich gemacht, da
nur bei streng polständigem Sitz eines Nierenzellkarzinoms
eine Teilresektion vertretbar ist. Der Gesundheitsschaden
besteht jedoch in der deutlichen Verschlechterung der Pro-
gnose, die auf der Diagnoseverzögerung von fast eineinhalb
Jahren beruht.
Ergänzend zum Thema
In Fällen einer isolierten Mikro- oder Makrohämaturie, oh-
ne dass diese mit sonstigen pathologischen Urin-Sediment-
Befunden oder Miktionsbeschwerden verbunden ist, lehrt
die ärztliche Erfahrung wie folgt vorzugehen:
Nach Erhebung einer detaillierten Anamnese sollte zu-
nächst durch kurzfristige Urinkontrollen in Abständen von
wenigen Tagen ermittelt werden, ob die Hämaturie bzw. Ery-
throzyturie konstant oder intermittierend ist, oder ob sie nur
gelegentlich auftritt. Eine konstante oder intermittierende
Hämaturie/Erythrozyturie erweckt – wenn eine Hämolyse
oder eine hämorrhagische Diathese ausgeschlossen ist – den
Verdacht auf glomeruläre Ursachen (meist mit entsprechen-
der arterieller Hypertonie), insbesondere auf einen gut- oder
bösartigen Nierentumor im Sinne eines Nierenzell-Karzinoms
oder eines Urothelkarzinoms. Seltener kommen als Ursache
Missbildungen im Bereich der Nieren oder ableitenden Harn-
wege in Betracht.
Bei derDifferenzierung zwischen diesenmöglichenUrsachen
können glomeruläre Ursachen im Sinne einer Glomerulo-
nephritis mit Mikrohämaturie – soweit nicht das klassische
Krankheitsbild einer diffusen Glomerulonephritis vorliegt –
mit Hilfe der Urin-Zytologie, der Phasenkontrast-Mikrosko-
pie oder der Thiomersal-Zytologie an Hand charakteristischer
Veränderungen an den Erythrozyten in etwa 30 bis 50 Pro-
zent der Fälle erkannt und so diesen zugeordnet werden.
Vorrangige Aufgabe bei einer einmaligen Makrohämaturie
oder intermittierenden Mikrohämaturien bleibt es jedoch,
einen Nierentumor durch weiterführende Untersuchungen
wie Sonographie, CT, ggf. Urographie, zuverlässig nach-
weisen oder ausschließen zu können, um ggf. die Therapie
nicht zu verzögern.
Vor der Entscheidung in dem hier geschilderten Fall hatte
die Gutachterkommission Nordrhein bereits in 13 weiteren
Fällen die Feststellung treffen müssen, dass bösartige Nieren-
tumore verkannt worden waren. Betroffen waren Allge-
meinärzte, Internisten und Urologen.
Herbert Weltrich und Herwarth Lent
Anmerkung
In der Zuschrift einer Fachärztin für Urologie wurde darauf hinge-
wiesen, dass Nierenzelltumore weit überwiegend „klarzellige“ seien.
In der Antwort wurde dem zugestimmt und zum Ausdruck gebracht,
dass die Sachverhaltsschilderung auf dem Entlassungsbericht der
Klinik beruhe.
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Gutachtliche Entscheidungen