

Die Gutachterkommission hat häufig die Unterlassung dif-
ferenzialdiagnostischer Überlegungen beanstanden müssen.
Bei rechtzeitiger sachgerechter Diagnostik wären in diesen
Fällen gesundheitliche Schäden vermieden worden. Grund-
lage differenzialdiagnostischer Entscheidungsvorgänge
sind in aller Regel Anamneseerhebung, körperliche Unter-
suchung, Röntgenbefunde und Ergebnisse von Laborunter-
suchungen.
Die Gutachterkommission hatte vor kurzem folgenden Sach-
verhalt zu beurteilen, bei dem mehrere medizinische Fach-
gebiete betroffen waren. Aus den Krankenunterlagen der
beschuldigten niedergelassenen Ärzte (Chirurg, Internist,
Radiologe) und der nachbehandelnden Klinik ergab sich
Folgendes:
Chirurgische Behandlung
Die 54-jährige Patientin suchte am 17. August erstmals we-
gen eines Knotens an der rechten Halsseite den Chirurgen
auf. Dieser stellte eine tumoröse Schwellung fest, die die
Haut bereits infiltriert und aufgebrochen hatte. Die histolo-
gische Untersuchung des bioptisch entnommenen Materials
ergab eine subkutan-abszedierende, granulierende und gra-
nulomatöse Entzündung ohne einen Anhalt für Malignität.
Am 31. August entfernte der Arzt operativ den Weichteiltu-
mor. Die histologische Untersuchung ergab dasselbe Er-
gebnis wie nach der Biopsie. In dem Bericht des Pathologen
vom 7. September wird darauf hingewiesen, dass auch bei
fehlendem Nachweis säurefester Stäbchen eine Tuber-
kulose nicht ausgeschlossen werden könne. Der Pathologe
warf auch die Frage nach mediastinalen Lymphomen oder
pulmonalen Veränderungen auf.
Weitere Diagnostik abgelehnt
Eine vom behandelnden Arzt am 22. September empfohlene
weitergehende Diagnostik lehnte die Patientin ab. In der
Dokumentation ist die Ablehnung vermerkt, jedoch findet
sich keine Eintragung über einen Hinweis des Arztes über
die nachteiligen Folgen einer unterlassenen Diagnostik.
Am 13. Oktober suchte die Patientin den Chirurgen wegen
eines am 3.Oktober erlittenen Sturzes auf die rechte Thorax-
seite erneut auf. Die Wunde am Hals soll zu diesem Zeit-
punkt reizlos gewesen sein. Auf den an diesem Tage von ihm
angefertigten Röntgenaufnahmen der knöchernen rechten
Thoraxhälfte stellte der Arzt keine knöchernen Verletzungs-
folgen fest, so dass die Patientin bis zum 19. Oktober unter
der Diagnose einer Thoraxwandprellung behandelt wurde.
Behandlung durch den Internisten
Am 13. November stellte sich die Patientin bei dem Internisten
wegen anhaltender Beschwerden im rechten Brustkorb un-
ter Einschluss des Narbengebietes am Hals (Zustand nach
einer Lymphknotenexstirpation im August desselben Jahres)
vor. Die Schmerzen strahlten in die Trapezius- und Pekto-
ralismuskulatur aus und waren atemabhängig. Die Blutsen-
kungswerte waren deutlich erhöht (48/80 mm n.W.).
Die noch am selben Tag veranlasste Röntgenuntersuchung
der Thoraxorgane ergab – nach der Beurteilung des Inter-
nisten – keinen krankhaften Befund. Der Arzt nahm eine
Thoraxprellung mit einer Interkostalneuralgie an und führ-
te über mehrere Wochen eine Therapie mit Massagen und
intramuskulären Injektionen–Scandicain,Allovoran (Diclo-
fenac-Na.), Vitamin B 12 – durch, ohne dass es zu einer nen-
nenswerten Schmerzlinderung kam. Auch die weiteren
Röntgenaufnahmen vom 16. Januar des folgenden Jahres
ergaben nach seiner Ansicht keinen Anhalt für einen akuten
Krankheitsprozess.
Da im Januar die Wunde im Operationsbereich an der rech-
ten Halsseite vom August noch nicht abgeheilt war, stellte
der Internist die Patientin am 22. Januar nochmals dem
Chirurgen vor. Dieser beabsichtigte eine erneute Röntgen-
aufnahme, die die Patientin unter Hinweis auf die Untersu-
chung vom 16. Januar ablehnte.Darauf ließ sich der Chirurg
den Befund vom 16. Januar von dem Radiologen erläutern.
Er sah keinen Anlass für weitere Untersuchungen.
Die Röntgenbefunde des Radiologen
Beide Röntgenuntersuchungen (13. November und 16. Janu-
ar) wurden von dem beschuldigten Radiologen durchge-
führt. Der am 13. November erhobene Befund lautete:„Dys-
telektasen im Mittellappen; sonst regelrechter Herz- und
Lungenbefund. Knöcherner Thorax im Hartstrahlbild alters-
entsprechend.“ Die Vorgeschichte mit der Schwellung und
Operation an der rechten Halsseite war dem Radiologen
nicht mitgeteilt und von ihm auch nicht eruiert worden.
Die am 16. Januar durchgeführten Röntgenaufnahmen des
Thorax und der BWS wurden wie folgt beurteilt: „Thorax:
Regelrechter Herz- und Lungenbefund. Keine frischen Infil-
trate. Kleine Dystelektasen rechter Mittellappen. BWS in
zwei Ebenen: Betonte Brustkyphose im oberen Abschnitt.
Der 4. Brustwirbelkörper ist kaum abgrenzbar, vermutlich
liegt ein Plattwirbel vor. Gewisse Gefügestörung in der Ky-
phosekontinuität. Sonst unauffälliges Skelettbild der BWS.“
Die Behandlung des Internisten endete am 6. Februar.
Akute Verschlechterung
Im weiteren Verlauf des Monats Februar zeigte sich eine zu-
nehmende Schwäche im rechten Bein, die zum wiederhol-
ten Einknicken des rechten Knies führte. Am 22. Februar
entwickelte sich eine rasch zunehmende rechts betonte Para-
parese mit Sensibilitätsstörungen der unteren Körperhälfte.
Die Patientin wurde in einer neurochirurgischen Universi-
tätsklinik vorgestellt. Die dort untersuchenden Ärzte sahen
Versäumnisse in der Differenzialdiagnostik bei
Thorax- und Rückenbeschwerden
Verkennung einer tuberkulösen Spondylitis und Spondylodiscitis
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Gutachtliche Entscheidungen