

Fehlerhafte Behandlung von Schnittverletzungen
Gutachtliche Entscheidungen
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Zusammenfassend stellte die Gutachterkommission fest:
Die Versäumnisse in der beschuldigten Klinik sind als vor-
werfbare Behandlungsfehler zu bewerten.Wäre die Streck-
sehnenverletzung erkannt worden, hätte diese mittels einer
direkten Sehnennaht in der Klinik oder nach sofortiger
Überweisung in einer Spezialklinik behoben werden kön-
nen. Der entstandene Gesundheitsschaden liege in der un-
nötigen Behandlungszeit bis zu der notwendigerweise jetzt
umfangreicheren Operation am 18. November. Ein Dauer-
schaden habe allerdings durch die erfolgreiche Indicisplas–
tik weitgehend vermieden werden können.
Zweiter Fall: Glas-Schnittverletzung
an der Beugeseite des Handgelenkes
Der 5-jährige Patient erlitt die Verletzung am 15. März, als er
gegen eine verglaste Haustür lief. Die zerbrochene Glas-
scheibe drang in die rechte Handgelenksbeugefalte ein. Die
ärztliche Erstbehandlung erfolgte in der Ambulanz der be-
schuldigten chirurgischen Klinik. Eine Dokumentation
über die Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen
konnte die Klinik nicht vorlegen. Einzelheiten des Sachver-
halts ließen sich erst der späteren ärztlichen Stellungnahme
gegenüber der Gutachterkommission entnehmen.
Danach ist eine etwa 4 cm lange, querverlaufende Schnitt-
wunde amHandgelenk in Lokalanästhesie versorgt worden.
Bei der vorhergehenden Untersuchung habe außer der
„Durchtrennung der Haut und der oberflächlichen Anteile
des subkutanen Fettgewebes ... keine breite Eröffnung tiefe-
rer Strukturen festgestellt“ werden können. Anhaltspunkte
für eine Verletzung von Nerven und Sehnen seien nicht ge-
wonnen worden. Es fand deshalb lediglich eine primäre
oberflächliche Wundversorgung statt.
Die Weiterbehandlung erfolgte durch eine niedergelassene
Kinderärztin, die in der Folgezeit bis zum 20. März Wund-
kontrollen durchführte. Es kam zurWundheilung.
Auftreten von Sensibilitätsstörungen
Bei der letzten Kontrolle am 20. März stellte die Ärztin Ge-
fühlsstörungen an der Innenseite des rechten Daumens fest
und überwies den Patienten deshalb zur Untersuchung in
die – mitbeschuldigte – kinderchirurgische Abteilung eines
anderen Krankenhauses.
Nach dem Bericht des Chefarztes der Abteilung konnten
Hinweise auf eine verletzungsbedingte Beteiligung „wichti-
ger Strukturen“ nicht gefunden werden. Die Kinderärztin
entfernte die Fäden am 26. März. Danach war die Wunde
fest verheilt.
Am 13.April wurde das Kind wiederum in der kinderchirur-
gischen Abteilung vorgestellt. Anlass war eine Schwellung
über der Streckseite des Mittelgelenkes des rechten 4. Fin-
gers. Der Untersuchungsbericht der Klinik erwähnt nur ei-
ne „abklingende Weichteilschwellung“. Auf die Folgen der
der Klinik bekannten Schnittverletzung im Handgelenksbe-
reich geht der Bericht nicht ein. Auch der Ursache der Ge-
fühlsstörungen, auf die aufmerksam gemacht worden war,
wird nicht nachgegangen.
Als die Kinderärztin bei einer Vorstellung des Kindes im
Mai weiter Gefühlsstörungen im Daumen feststellte, veran-
lasste sie eine erneute Untersuchung in der genannten kin-
derchirurgischen Abteilung, die zur Feststellung eines
„begrenzten Sensibilitätsverlustes“ auf der Beugeseite des
Daumens führte. Das Kind wurde danach in einer neurolo-
gischen Klinik mit dem Ergebnis einer „kompletten motori-
schen Schädigung und einer offenbar inkompletten sensi-
blen Schädigung des Nervus medianus“ untersucht.
Stationäre operative Behandlung
Unter der Diagnose „Glassplitterverletzung am rechten
Handgelenk volar mit subtotaler Durchtrennung des N.
medianus auf Handgelenkshöhe und Durchtrennung der
Flexor carpi radialis-Sehne und Narbenneurom des N. me-
dianus“ erfolgte die Operation am 9. Juni in einer Klinik für
Plastische, Hand-, Mikro- undWiederherstellungschirurgie.
Im ausführlichen Operationsbericht wird dargelegt, „dass
2/3 des N. medianus durchtrennt waren und keine Verbin-
dung miteinander hatten und sich aus diesem Grunde ein
Neurom gebildet hat“. Nach Resektion des Neuroms konn-
ten die Nervenenden in 10-prozentiger Beugestellung des
Handgelenkes spannungsfrei adaptiert werden. Auf eine
Nerventransplantation wurde verzichtet. Anschließend
wurde die durchtrennte Sehne vernäht. Schließlich wurden
die einzelnen radialen Faszikelgruppen des N. medianus
„aufeinander koaptiert und mit 10,0 Fäden vernäht“. Nach
Einlegen einer Drainage wurde der Arm in einem Gipsver-
band ruhiggestellt. Der postoperative Verlauf war komplika-
tionslos. Die Entlassung zur Weiterbehandlung durch die
Kinderärztin erfolgte am 13. Juni.
Einem für die Krankenversicherung gefertigten Gutachten
vom 8. Juli konnte entnommen werden, dass die Nervennaht
weitgehend erfolgreich war. Es bestand noch eine abge-
schwächte Sensibilität im Daumenballen mit vorzeitiger Er-
schöpfbarkeit bei maximaler Innervation. Das geprüfte
Reinnervationspotential lag bei schätzungsweise 60 Pro-
zent, die Leitgeschwindigkeit des N. medianus proximal des
Handgelenkes lag im Normbereich.
Eine „weitere graduelle Zunahme der Innervation“ wurde
für möglich gehalten. Eine bleibende Teilschädigung sei aller-
dings nicht auszuschließen. Nennenswerte Funktionsein-
bußen bestanden nicht.
Gutachtliche Beurteilung
Die Glas-Schnittverletzung des Kindes ist in der chirurgi-
schen Ambulanz ungenügend versorgt worden. Es fehlte an
einer gründlichen Wundrevision bis in die Tiefe der Verlet-
zung unter Blutleere und Anästhesie. Die Schnittwunde an
der radialen Beugeseite des Handgelenkes musste den Arzt
veranlassen, eine genaue Untersuchung auf den möglichen
Ausfall motorischer und nervaler Funktionen des Daumens
und der Finger vorzunehmen. Auch ohne spezielle hand-
chirurgische Erfahrung ist von einemChirurgen zu verlangen,
dass er bei einer solchen Schnittverletzung die Möglichkeit
einer Mitbeteiligung der nicht allzu tief gelegenen Struktu-
ren, wie N. medianus und Sehnen, in Betracht zieht und die
notwendige eingehende Untersuchung veranlasst. Nach