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Gutachtliche Entscheidungen

Verzögerte Diagnose eines Bronchialkarzinoms

handlung einer Sinusitis wieder pathologische Geräusche

über den Lungen feststellte. Fünf Wochen später wurde die

gleiche Feststellung getroffen, die ebenfalls zu keiner Abklä-

rung der Ursache dieser Erscheinungen führte.

Gänzlich unverständlich war dann die erneute antibiotische

Behandlung eines Infektes derAtemwege ab Juli 1996, eben-

falls ohne radiologische Klärung des Lungenbefundes. Der

behandelnde Arzt hätte sich vor Augen führen müssen, dass

für die antibiotische Therapie unter den gegebenen Umstän-

den ein radiologischer Ausgangsbefund der Lungen unab-

dingbar war, da sich hinter dieser Symptomatik sehr unter-

schiedliche Krankheitsbilder verbergen können, die bei der

Behandlung zu berücksichtigen sind.

Ob zu diesem Zeitpunkt – zwei Jahre vor der Feststellung

des bösartigen Tumors – bereits ein pathologischer Lungen-

befund erkennbar gewesen wäre, konnte die Gutachterkom-

mission allerdings im Nachhinein nicht mehr sicher fest-

stellen, wenn auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür

spricht, weil es sich bei dem großzelligen, hier vom rechten

Hauptbronchus ausgehenden Plattenepithel-Karzinom um

eine relativ langsam wachsende Tumorart handelt.

Fehlerhaft war es in der Folgezeit ferner, dass keine Auskul-

tationsbefunde erhoben wurden. Die Befunde hätten sicher-

lich dringenden Anlass zu weiterführenden diagnostischen

Maßnahmen geboten.

Ein weiteres wesentliches Versäumnis lag dann im Verzicht

auf eine Abklärung der Ursache für die am 14.10.1997 fest-

gestellte Verhärtung der Lymphknoten beiderseits des Hal-

ses. Zu diesem Zeitpunkt wäre der Tumor mit Sicherheit

feststellbar gewesen. Inwieweit er allerdings noch erfolg-

reich hätte behandelt werden können, musste offen bleiben.

Zusammenfassend bewertete die Kommission die gesamten

Versäumnisse als einen schwerwiegenden (= groben) Be-

handlungsfehler. Die Behandlungschancen bei einer um ein

bis zwei Jahre früher einsetzenden Behandlung wären grö-

ßer gewesen.

Die Feststellung eines „groben“ Behandlungsfehlers kann

für die Frage, ob er den eingetretenen Schaden verursacht

hat, zur Umkehrung der Beweislast führen. Das bedeutet,

dass in einem solchen Fall nicht der Patient die Kausalität

nachzuweisen hat. Vielmehr ist es dann Sache des betroffe-

nen Arztes, den Nachweis zu führen, dass der Gesundheits-

schaden (hier der Tod) nicht eine Folge seiner Versäumnis-

se ist,was bei dem gegebenen Sachverhalt wohl nicht gelingen

dürfte.

Ergänzend zum Thema

Unter den von der Gutachterkommission in der Zeit von

1976 bis 1999 festgestellten Behandlungsfehlern (n = 4.747)

war 37-mal eine verspätete oder unzureichende Diagnose

bösartiger Lungenerkrankungen zu rügen. Es lagen 36-mal

groß- oder kleinzellige Bronchialkarzinome und einmal ein

peripheres Lungenkarzinom vor. Ursache für die Verken-

nung war 11-mal eine Fehlinterpretation radiologisch er-

kennbarer Verdichtungen im Bereich der Lungen, dabei 4-

mal bei werksärztlichen Vorsorgeuntersuchungen. 12-mal

wurde es unterlassen, Verbreiterungen und/oder Verdich-

tungen im Bereich der Lungenwurzeln (Lungenhilus) bzw.

des Mediastinums hinsichtlich ihrer Dignität durch weiter-

führende Untersuchungen wie Computer-Tomographie,

Bronchoskopie mit histologischer Bewertung von Probe-

Excisionen, ggf. auch einer Bronchographie, zu klären.

Bei der Behandlung eines chronisch rezidivierenden Hus-

tens mit und ohne Auswurf – u.a. mit Antibiotika – unter der

Annahme einer chronischen Bronchitis wurde 9-mal eine

Übersichtsaufnahme des Thorax als Basisuntersuchung ver-

misst, dabei 2-mal trotz Klagen über eine deutliche Ge-

wichtsabnahme. Bei Schmerzen im Bereich des Brustkorbs

ist die Annahme einer so genannten „Interkostal-Neuralgie“

und deren Behandlung über mehrere Wochen nur dann

gerechtfertigt,wenn ihr eine Übersichtsaufnahme des Brust-

korbs vorangegangen ist.Das Gleiche gilt auch bei anhalten-

den Schmerzen im Bereich einer Schulter, deren Funktion

nicht oder nicht nennenswert eingeschränkt ist, da sich da-

hinter ein sogenannter „Pancoast-Tumor“ der obersten

Lungenabschnitte verbergen kann.

Im Rahmen chirurgischer Krankenhausbehandlung wurde

einmal die vom Radiologen empfohlene weitere Abklärung

eines verdächtigen Lungenbefundes unterlassen, einmal die

Notwendigkeit weiterer Untersuchungen dem Hausarzt

nicht mitgeteilt.

Die 37 Diagnosefehler bei der Verkennung maligner Lun-

generkrankungen stellen einen Anteil von immerhin rund

12 Prozent der insgesamt festgestellten Fehler bei der Ver-

kennung (n = 312) bösartiger Geschwulste dar.

Die festgestellten Behandlungsfehler betreffen Internisten,

Allgemein- und Arbeitsmediziner, HNO-Ärzte, Radiologen,

Chirurgen und Anästhesisten.

Herbert Weltrich und Herwarth Lent