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Jahresbericht 2014

Ärztekammer

Nordrhein

Allgemeine Fragen der Gesundheits-, Sozial- und Berufspolitik

Ergebnis entsprechender Kommunikatoren auf der

Ebene der Nukleinsäuren, der Proteine und ihrer

Rezeptoren und Liganden, der Oberflächenrezep-

toren der Zellen und der Sinnessysteme als Verbin-

dung zur Lebenswelt. Labisch: „Umwelt und In-

nenwelt gehören auf irgendeine Weise zusammen.“

Das neue Konzept der „molekularen Medizin“

wird dazu führen, dass sich das ärztliche Hand-

lungsspektrum auf der Grundlage biologischer

Kriterien individualisieren wird und Prophylaxe

und Lebensbegleitung im Vergleich zur Therapie

wichtiger werden, glaubt Labisch. Seiner Auffas-

sung nach bedarf es zunehmend einer zum Beispiel

hausärztlichen Lebensbegleitung der Menschen,

die zu „Selbstorganisatoren ihres genomischen Po-

tenzials“ werden. „Wir dürfen den Patienten nicht

aus dem Blick verlieren. Nach biologischen Krite-

rien personalisierte Medizin ist nicht per se auf den

Patienten ausgerichtet“, mahnte Labisch.

Das Patient-Arzt-Verhältnis als Nukleus der Medizin

Über die Wandlungen des Patient-Arzt-Verhält-

nisses im Laufe der Jahrhunderte sprach der Di-

rektor des Instituts für Geschichte und Ethik der

Medizin an der Uniklinik Köln, Professor Dr. Klaus

Bergdolt, in seinem Festvortrag im Oktober 2013.

Das „ungleiche Duo“ Patient und Arzt hat nach

seinen Worten in allen Kulturen und zu allen

Zeiten eine besondere Rolle gespielt. So ist es auch

heute in Deutschland, wo der Arztberuf der angese-

henste aller Berufe ist. Ärztinnen und Ärzte werden

als ideale Schwiegersöhne und Schwiegertöchter

geschätzt, wie der Medizinhistoriker zur Erheite-

rung seiner jungen Kolleginnen und Kollegen sagte.

Der gute Ruf wurzelt letztlich im Verhältnis von

Patient und Arzt, deren Begegnung nach Bergdolts

Worten als „Nukleus der Medizin überhaupt“ gilt.

Im Mittelpunkt der Heilkunde stehen demnach

nicht das naturwissenschaftliche Labor oder die

Medizinischen Fakultäten, wie manche Ärzte und

Physiologen im 19. Jahrhundert meinten, nicht das

Krankenhaus und schon gar nicht die Gesundheits-

bürokratie oder die Gesundheitsökonomie. Kern

ist der Kampf gegen konkrete Krankheiten, „in

welchem – ungeachtet der zunehmenden Techni-

sierung und Anonymisierung der Medizin – zu-

nächst einmal zwei Menschen stehen.“

Schon in der Antike wünschte man sich einen

menschlichen Arzt, der empathisch und des Mit-

leids fähig war, wie Bergdolt sagte. Auch heute

werde vom Arzt – über das Messende, Vergleichen-

de, Einordnende hinaus, das im Medizinstudium

Handeln auf wissenschaftlicher Basis, und dies

bezogen auf die individuellen Bedürfnisse des Pa-

tienten – das ist nach Labischs Worten die besonde-

re ärztliche Aufgabe. Die Medizin als „reine“ Wis-

senschaft zu begreifen führe in die Irre, nämlich

in den Dogmatismus. Für den Arzt ebenso wenig

zielführend sei jedoch ein reiner Empirismus, also

ein vor allem auf persönliche Erfahrung und we-

niger auf Wissen und Theorie gestütztes Handeln:

„Dann sind wir bei der uralten Krankenschwester,

die den ärztlichen Berufsanfängern haushoch über-

legen ist.“

Nach Labischs Worten kommt es darauf an, Wis-

sen und Erfahrung mit Blick auf den Patienten zu

kombinieren. Die Wissenschaft soll die Sicherheit

im ärztlichen Handeln vermitteln. Der Patient hat

erst dann einen Nutzen, wenn der Arzt sein Wissen

pragmatisch und auf den einzelnen Patienten und

dessen Lebenswelt bezogen anzuwenden vermag.

Die jeweils gültigen medizinischen Konzepte

wechseln mit den Zeiten – und damit auch die theo-

retischen Vorgaben für das ärztliche Handeln, wie

Labisch darlegte. So begriff die stark von den Na-

turwissenschaften geprägte Medizin, die sich ab

Mitte des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann,

den Menschen quasi als physikalisch-chemische

Fabrik. Symptome wurden als Prozessstörungen

angesehen, die durch gezielte Eingriffe behoben

werden sollten. Es wurden Krankheiten behandelt,

nicht Menschen. Labisch: „Der Patient als Mensch

war für eine OP völlig belanglos.“

Ganz anders dagegen der Genetiker und Biophysi-

ker Max Delbrück, der bereits im Jahr 1945 schrieb:

„Die komplexe Gestalt jeder lebenden Zelle ist ein

Ausdruck der Tatsache, dass jede von ihnen mehr

ein historisches als ein physikalisches Ereignis ist.

Solche komplexen Dinge entstehen nicht jeden Tag

durch Spontanerzeugung aus nicht belebter Ma-

terie …“

Ein regelrechter Paradigmenwechsel in der Medi-

zin entwickelt sich laut Alfons Labisch seit Beginn

der 1990er-Jahre: Die Naturwissenschaften ver-

lieren an Bedeutung als wissenschaftliche Grund-

lage für die Medizin, die sich zunehmend auf die

„Lebenswissenschaften“ (Life Scenes) stützt. Diese

begreifen den Menschen als äußerst komplexes bio-

logisches System, das in einer fortwährenden mo-

lekularen Kooperation und Kommunikation nach

innen und außen steht.

Solche lebenden Systeme unterliegen laut Labisch

zwar den Gesetzen der Physik und der Chemie, ihr

Verhalten ist aber nicht Folge einer jeweiligen phy-

sikalischen oder chemischen Ursache, sondern ein