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Gutachtliche Entscheidungen

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Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit des Patienten

bedürfen seiner Einwilligung. Diese ist grundsätzlich nur

rechtswirksam erteilt, wenn der Patient rechtzeitig, umfas-

send und verständlich über Art, Tragweite und Risiken der

Behandlung sowie über in Betracht kommende Behand-

lungsalternativen mit geringeren Risiken aufgeklärt worden

ist (Eingriffsaufklärung).

Von besonderer Bedeutung ist der Zeitpunkt der Unterrich-

tung. Dem Patienten muss ausreichend Zeit für seine Ent-

scheidung bleiben, dem Eingriff zuzustimmen oder ihn, ggf.

nach Einholung von anderweitigem Rat, abzulehnen. Diese

Voraussetzung ist nicht mehr gegeben,wenn die Aufklärung

so unmittelbar vor dem Eingriff erfolgt, dass der Patient

schon während des Aufklärungsgesprächs mit einer sich un-

mittelbar anschließenden Durchführung des Eingriffs rech-

nen muss und deshalb unter dem Eindruck steht, sich nicht

mehr aus einem bereits in Gang gesetzten Geschehensablauf

lösen zu können

(vgl. BGH NJW 1996, 777)

.

Die Gutachterkommission prüft die Frage, ob der Patient

zeitgerecht und ausreichend aufgeklärt wurde, nur auf eine

entsprechende Rüge des Patienten, denn er ist in erster Linie

in der Lage zu beurteilen, inwieweit er sich vor seiner Ein-

willigungserklärung genügend informiert fühlte oder ob er

bei einer umfassenderen Aufklärung nicht eingewilligt hätte.

Bei unzureichender Aufklärung haftet der Arzt grundsätz-

lich für alle Schadensfolgen des mangels wirksamer Ein-

willigung rechtswidrigen Eingriffs, unabhängig davon, ob

sein Vorgehen indiziert war und fachgerecht ausgeführt

wurde

(Näheres zu den ärztlichen Aufklärungspflichten siehe

Seite 19)

.

Wenn die Ablehnung der Behandlung medizinisch unver-

nünftig und daher wenig verständlich gewesen wäre, kann

der Arzt gegenüber der Aufklärungsrüge einwenden, dass

der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt

hätte (hypothetische Einwilligung). Es ist dann Sache des

Patienten nachvollziehbar zu begründen, dass er nach hin-

reichender Aufklärung abgelehnt hätte oder in einen Ent-

scheidungskonflikt geraten wäre, der seine Ablehnung ver-

ständlich macht.

An den Nachweis der hypothetischen Einwilligung stellt die

Rechtsprechung allerdings strenge Anforderungen, damit

nicht die Pflicht zur Aufklärung des Patienten auf diesem

Wege unterlaufen wird

(vgl. BGH NJW 1998, 2734)

. Die hypo-

thetische Einwilligung spielt daher bei Aufklärungsmängeln

nur noch selten eine Rolle.

Entgegen den Befürchtungen mancher Ärzte, die Aufklä-

rungsproblematik habe eine Vielzahl von Haftungsfällen

zur Folge, hat die Gutachterkommission nur in ganz weni-

gen Fällen (unter 1 Prozent) einen haftungsbegründenden

Aufklärungsmangel festgestellt, aber eine fehlerhafte Be-

handlung verneint.

Der nachfolgend geschilderte Sachverhalt enthält einen sol-

chen Ausnahmefall, der sich vor kurzer Zeit ereignete. Seine

Veröffentlichung dient der Warnung vor ähnlichen Unter-

lassungen mit oft schwerwiegenden Haftungsfolgen.

Der Sachverhalt

Der 70 Jahre alte Patient litt seit Januar an wiederholt auf-

tretenden Angina pectoris-artigen Schmerzen in der Brust.

Der Hausarzt veranlasste deshalb zur diagnostischen Abklä-

rung und ggf. Behandlung die stationäre Aufnahme im be-

schuldigten Krankenhaus, die am 21. März erfolgte.

Wegen einer drei Jahre zurückliegenden Tumorerkrankung

in der Lunge mit Pneumektomie links und einer knapp

5 Monate zurückliegenden Nephrektomie rechts wurden

zunächst zielgerichtet Untersuchungen zum Nachweis oder

Ausschluss von krankhaften Veränderungen als Folgeer-

scheinungen des operativ behandelten Bronchialkarzinoms

und des Nierentumors durchgeführt. Bei den Untersuchun-

gen wurden keine tumorverdächtigen Veränderungen fest-

gestellt.

Nachdem am 24. März beim Belastungs-EKG erneut Angina

pectoris-Beschwerden schon bei geringer Belastung aufge-

treten waren sowie im Echokardiogramm vom 26. März ei-

ne leichte Hypokinesie des spitzennahen linken Ventrikels

und intraventrikulären Septums festgestellt worden waren,

wurde bei Verdacht auf eine koronare Herzkrankheit die

Indikation zur Durchführung einer Herzkatheteruntersu-

chung gestellt.

Aufklärung und Einwilligung

Über die geplante Untersuchung wurde der Patient am

27. März umfassend mündlich und schriftlich aufgeklärt.

Auf die Möglichkeit spezieller Komplikationen einschließ-

lich eines Herz-Kreislaufversagens wurde handschriftlich

hingewiesen. Der Patient willigte noch am 27. März in die

vorgeschlagene Linksherzkatheteruntersuchung und Koronar-

angiographie ein.

Die Untersuchung fand am Vormittag des 28. März statt

und verlief diagnostisch ergiebig und komplikationslos. Es

wurden eine so genannte koronare Dreigefäßerkrankung

mit führender hochgradiger Einengung im Ramus interven-

trikularis anterior der linken Herzkranzarterie und zusätz-

liche Einengungen sowohl im Ramus diagonalis I als auch

im Ramus circumflexus der linken Herzkranzarterie und

weitere mittelgradige Stenosen in der rechten Herzkranz-

arterie bei guter Pumpfunktion der linken Herzkammer

festgestellt.

Zustimmung des Patienten

Über den umfangreichen Untersuchungsbefund wurde der

Patient noch auf dem Herzkathetertisch informiert, wobei

Haftungsfolgen wegen verspäteter Aufklärung

Unterrichtung des Patienten erst unmittelbar vor nicht dringlicher Herzkatheterintervention