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Gutachtliche Entscheidungen
Die Meningitis, eine Entzündung der Hirn- und Rücken-
markshäute (=Meningen), ist weltweit verbreitet. Epide-
mien traten in den vergangenen Jahrzehnten überwiegend
im so genannten Meningitisgürtel in Zentralafrika und in
Asien auf. In den Industrieländern findet man Meningitis-
Erkrankungen in der Regel nur noch als Einzelerkrankung
oder in Form kleinerer Ausbrüche. Genaue Zahlen sind für
Deutschland nur für die Meningokokken-Meningitis, eine
der häufigsten Formen der bakteriellen (eitrigen) Menin-
gitis bekannt, weil es sich um eine nach den Bestimmungen
des Infektionsschutzgesetzes meldepflichtige Erkrankung
handelt.
Nach den Veröffentlichungen des Robert Koch-Institutes
wurden für das Jahr 2004 600 Erkrankungen durch Menin-
gokokken und für 2005 626 Erkrankungen gemeldet. Die
bundesweite Inzidenz beträgt 0,76 Erkrankungen pro
100.000 Einwohner. Meningokokken werden als Tröpf-
cheninfektion zum Beispiel beim Husten oder Niesen auf
andere Personen übertragen. Screening-Untersuchungen
haben bei etwa 10 Prozent der Bevölkerung eine Besiede-
lung der Schleimhäute im Nasen-Rachenraum mit Menin-
gokokken ohne klinische Symptome nachgewiesen. Eine
Erkrankung kann in jedem Lebensalter vorkommen. Am
häufigsten sind jedoch Kinder unter 5 Jahren betroffen (etwa
40 Prozent der Fälle), vor allem Kinder unter 1 Jahr (15 Pro-
zent). Älter als 19 Jahre sind etwa 30 Prozent der Erkrank-
ten
(weitere Einzelheiten unter
www.rki.de).
Nach den Leitlinien sowohl der Deutschen Gesellschaft für
pädiatrische Infektiologie als auch der Deutschen Gesell-
schaft für Neurologie sind die klinischen Leitsymptome der
Meningitis Kopfschmerzen, Meningismus und hohes Fie-
ber. Ferner können initial Übelkeit, Erbrechen, Lichtscheu,
ein Verwirrtheitssyndrom, eine Vigilanzstörung und epilep-
tische Anfälle auftreten. Eine kürzlich veröffentlichte Studie
hat gezeigt, dass nahezu alle erwachsenen Patienten mit
bakterieller Meningitis mindestens 2 der 4 Symptome Kopf-
schmerzen, Fieber, Meningismus und Bewusstseinsstörung
aufwiesen. Bei etwa 75 Prozent der Patienten mit einer Me-
ningoenzephalitis waren bei Krankenhausaufnahme Haut-
veränderungen nachweisbar: makulopapulöse oder pete-
chiale Exantheme oder eine ausgedehnte Purpura fulminans
mit Hautnekrosen
(weitere Einzelheiten
unterwww.dgn.org)
.
Mit dem Fall der Erkrankung einer jungen Frau an Menin-
gitis, die so spät erkannt wurde, dass sich ein lebensbedroh-
licher Zustand entwickeln konnte, befasste sich unlängst
die Gutachterkommission:
Der Sachverhalt
Die Antragstellerin des Verfahrens, eine 23-jährige Frau,
erkrankte akut mit starken Kopfschmerzen, Übelkeit und
Erbrechen, stärksten Gliederschmerzen, auch im Nacken,
sowie Hautflecken an Armen, Beinen und Rücken. Vom
Hausarzt erhielt sie eine Tablette Clindamycin 600 und
Prednisolon.
Notfallmäßig wurde sie am folgenden Tag in die Innere Kli-
nik eines regionären Krankenhauses eingewiesen.
Bei der Aufnahme bestanden Fieber 38,9 °C, Hautblässe,
petechiale Einblutungen an beiden Unterschenkeln. An
Brustkorb, Lungen, Herz und Kreislauf wurden keine
krankhaften Befunde erhoben. Meningeale Befunde oder
pathologische Reflexe wurden nicht festgestellt. Labor-
befunde bei der Aufnahme: Leukozytose mit 13.690 µ/l,
BSG 30/67, CRP 28,38 mg/dl, LDH 281 U/l; Röntgen:
normaler Befund an den Thoraxorganen; EKG: Sinustachy-
cardie, sonst normal.
Die vorläufige Diagnose nach der stationären Aufnahme
lautete: „Viraler grippaler Infekt mit Exanthem durch
Vasculitis; Cephalgien und Gliederschmerzen“. Die Thera-
pie ab dem folgenden Tag bestand aus Elektrolytinfusionen,
Vomex A
®
-Tabletten und für 3 Tage aus 20 mg Decortin
®
.
Unter der Behandlung kam es zunächst zu einer leichten
Besserung, jedoch blieben die Temperaturen weiter um
38 °C. Ebenso bestand die Leukozytose weiter um 14.000
mit vorwiegend stabkernigen Granulozyten.
Am dritten Tag nach der Einlieferung trat eine klinische
Verschlechterung ein mit weiterhin hohen Temperaturen
und petechialen Blutungen sowie einer Leukozytose mit
20.000 µ/l und überwiegend Segmentkernigen, ohne dass
weitere diagnostische oder therapeutische Maßnahmen ge-
troffen wurden; es wurde lediglich die symptomatische Be-
handlung mit Infusionen, Aspirin
®
und Vomex A
®
fortge-
setzt. Am Abend des 6. Tages nach der Aufnahme wurde
erstmals ein „meningealer Reizzustand“ vermerkt und der
Verdacht auf eine Meningitis geäußert. Die Verlegung der
Patientin in eine Neurologische Klinik wurde veranlasst.
In der Neurologischen Klinik wurden bei der Aufnahme am
gleichen Tag „ein deutlicher Meningismus und eine leicht-
gradige periphere Parese“ festgestellt, die im weiteren Ver-
lauf in eine linksseitige Hemiparese überging. Die soforti-
ge Lumbalpunktion ergab eine massive granuläre Pleozyto-
se mit 10.432 Drittelzellen. Außerdem wurden gramnega-
tive Diplokokken (Meningokokken, Neisseria meningitidis)
nachgewiesen.Auch in der Blutkultur fanden sich mehrfach
Meningokokken. Bei radiologischen Schädelkontrollen
(MRT) wurde keine Zunahme des sich entwickelnden
Hydrocephalus festgestellt, so dass keine operative Shunt-
Entlastung erforderlich war.
Unter einer sofort eingeleiteten hochdosierten antibioti-
schen Therapie mit Penicillin kam es schnell zu einer klini-
schen Besserung der akuten Symptome wie Fieber, Glieder-
und Kopfschmerzen sowie der petechialen Blutungen. Die
Paresen und der Hydrocephalus bildeten sich nur langsam
zurück. Zur Verbesserung der Mobilität und Behebung der
eingetretenen Gangunsicherheiten wurde an die 23-tägige
neurologische Behandlung eine vierwöchige ergotherapeu-
tische, physiotherapeutische und neuropsychologische Be-
handlung in einer Rehabilitationsklinik angeschlossen, die
Die spät erkannte Meningokokken-Meningitis
Diagnosefehler führten zu dem lebensbedrohlichen Zustand einer jungen Frau